Schlüsselakteure aus der Ukraine machen sich mit den Erfahrungen in Deutschland vertraut und analysieren Handlungsmöglichkeiten für Kohleregionen in der Ukraine
Unter der Federführung der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin sowie dem Kiewer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung fand vom 3.bis 6. Juli 2017 eine Studienreise nach Berlin und ins Ruhrgebiet für 13 Teilnehmer-/innen aus der Ukraine statt. Judith Kiss, die das Umwelt- und Klimaschutzarbeit im DRA leitet, war an der Organisation und programmatischen Ausarbeitung der Studienreise beteiligt.
Die ukrainische Delegiertengruppe setzte sich aus Bürgermeistern, Parlamentsabgeordneten, Vertretern des Energieministeriums, Journalisten und NGO-Vertretern zusammen. Sie alle sehen sich mit der Frage konfrontiert, wie man eine sozialverträgliche, wirtschaftlich sinnvolle und im Hinblick auf die Umweltsicherheit verantwortungsvolle Transformation hin zu einem Strukturwandel von Kohleregionen vorbereiten, einleiten und begleiten kann.
Die Rahmenbedingungen in der Ukraine sind nicht einfach. Einem wohl durchdachten, auf langfristige Planung und Umsetzung ausgerichteten Prozess, der möglichst viele Interessengruppen einbezieht und Raum für Dialog bietet, stehen mehrere Umstände entgegen: die schwierige, vom Krieg in der Ostukraine verschärfte volkswirtschaftliche und finanzielle Situation im Land, eine noch kaum etablierte dezentrale und partizipatorische Entscheidungsfindungskultur sowie unzureichende gesetzliche Regulierungsmechanismen.
Die Erkenntnisse, die die Gäste aus der Ukraine während ihrer Studienreise in Deutschland gewonnen haben, sind:
- Die Energiewende in Deutschland trägt dazu bei, dass anstelle der Kohlewirtschaft alternative Produktions-, Versorgungs- und Arbeitsmärkte entstehen. Es sind heute weitaus mehr Menschen in Kohleregionen im Bereich Erneuerbare Energien beschäftigt als zuvor im Kohlebereich.
- ein Strukturwandel benötigt Zeit und Ausdauer; der Strukturwandel im Ruhrgebiet hat rund 60 Jahre gedauert
- bei langfristiger Vorbereitung sind nicht die heute noch beschäftigten Bergbauarbeiter die Hauptzielgruppe für wirtschaftspolitische Maßnahmen, sondern die zukünftigen Generationen. Denn heute Beschäftigte können in etwa 10-20 Jahren in die Rente entlassen werden, viel wichtiger ist es, Perspektiven für die regionale Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze über die Kohle-Ära hinaus zu schaffen
-> Investitionen und Programme benötigt für die Bereiche Bildung, Innovation, neue Technologie- und Dienstleistungssektoren, Alleinstellungsmerkmale finden, Stärkung von klein- und mittelständischen Unternehmen
- statt zentralisierter Politiklösungen mit einem enormen Bedarf an staatlicher Finanzierung, setzt man heutzutage sowohl in der Ruhrregion als auch in der Lausitz auf regionale, integrative, interregionale Politik- und Wirtschaftsförderansätze (bottom up-Ansatz). Dabei werden regional ansässige Unternehmen und Kommunen angeregt, standortangepasste Lösungen zu suchen, Innovationsregionen und Clusterstrategien werden ausgewiesen
- Kooperationen und sogenannte Multi-Stakeholder-Ansätze sind ausschlaggebend für eine stabile, langfristige Lösungsfindung: realistisch gegenüber der jetzigen Situation und den Zukunftsmöglichkeiten sein, Potentiale der Regionen ausarbeiten und nutzen, Pionierprojekte starten
- Für die Ukraine ist ein rascher Übergang zu Erneuerbaren Energien momentan unwahrscheinlich. Als ein realistisches Szenario erachten die Teilnehmer/-innen, dass in naher Zukunft staatliche Subventionen für den Kohlesektor minimiert, Zechen privatisiert, modernisiert und unrentable Zechen geschlossen würden. Parallel dazu können sich die Teilnehmer/-innen vorstellen, dass Erneuerbare Energien (EE) und die dafür notwendige Infrastruktur/Technologie (bspw. smart grids) ausgebaut sowie gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen würden, äußern aber Bedenken, dass dies in einem (zu) langsamem Tempo geschehen könnte.
- Staatlich gesetzte Impulse für die Popularisierung und den Ausbau von EE wären wünschenswert (etwa in Form von Darlehenssystemen für Kommunen oder Haushalte).
- um Strukturwandel zu begleiten und neue, attraktive Entwicklungspfade zu öffnen, ein verlässliches Programm müsste in Zusammenarbeit mit verschiedenen Interessengruppen und Zuständigkeitsebenen ausgearbeitet werden (Formulierung von klaren Zwischenzielen, Endziel, Zeitplan, Finanzierung, Beteiligungsformen), intelligente und innovative Finanzierungslösungen werden benötigt (beispielhaft hierfür ist die RAG Gesellschafts- und Stiftungsgründung im Ruhrgebiet)
- Transparente, öffentliche Diskussionen und Dialogprozesse müssen angeregt werden, über journalistische Arbeit, Runde Tische, Arbeitsgruppen, Szenarien- und Strategieausarbeitung. Schlüsselakteure sind: Ministerien, Unternehmen der Kohlewirtschaft, Kommunen und Gemeinden, Strom- und Wärmeanbieter, Verbraucher, betroffene Bevölkerung.
- Der unvermeidliche Wandel von Kohleregionen muss nach außen hin kommuniziert werden. Die Bevölkerung muss einbezogen und informiert werden, zum einen darüber, dass eine Transformation unvermeidlich ist und zum anderen, dass es Alternativen und eine andere Zukunft gibt. Pilotbeispiele müssen geschaffen und gezeigt werden.
- Die Teilnehmer/-innen sehen in der Verzögerung von Lösungsfindungsprozessen, in Korruption und der Ignoranz des Transformationsbedarfs die größten Hindernisse für effektives Handeln.
Zum Hintergrund
Mit einem Anteil von etwa 35 % am Energiemix, hatte die Kohle für die Energieversorgung der Ukraine bis 2014 eine herausragende Bedeutung. Sie war und ist der wichtigste Energielieferant für die landesweite Strom- und Wärmeerzeugung. Mit der großflächigen Belagerung der Donbas-Region durch Separatisten hat die Ukraine jedoch nur noch eingeschränkt Zugriff auf ihre Steinkohle, da sich 95 % der Vorkommen im Donbas befinden. Die Steinkohleförderung hat um 60% abgenommen, sodass der Energieträger heute importiert werden muss.
Eine Wiederbelebung der Steinkohleförderung auf ein Vorkriegs-Niveau ist auch nach dem Krieg in der Ostukraine unwahrscheinlich. Der Druck, alternative Entwicklungswege für Kohleregionen einzuleiten, wird immer größer. Nicht nur wegen des kriegsbedingten Einbruchs der Steinkohlewirtschaft. Die Kohlewirtschaft ist außerdem dafür verantwortlich ist, dass die Ukraine zu den weltweit größten Treibhausgasemittenten zählt. Im Lichte des Pariser Abkommens, das die Ukraine ratifiziert hat, muss das Land Maßnahmen einleiten, um eine kohlenstoffarme Entwicklung gewährleisten zu können. Schließlich bringt die Kohlewirtschaft auch zahlreiche andere Probleme mit sich, die einer dringenden Lösung bedürfen: starke Luftverschmutzung, Gesundheitsrisiken für die Bevölkerung, schlechte Arbeitsbedingungen, abnehmende Wirtschaftlichkeit, zu hoher staatlicher Subventionsbedarf.
Auf Grund der zunehmenden Probleme und Kosten, die mit einer inländischen Kohleförderung im Zusammenhang stehen, werden heute nach und nach Zechen geschlossen, ohne dass ein klares staatliches Programm die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Folgen abfedern würde.
Vor diesem Hintergrund hatten die Teilnehmenden ein besonders Interesse daran, die Prozesse, Erfolge und Misserfolge in Deutschland kennenzulernen, um geeignete Impulse und Ideen für die Ukraine zu gewinnen.
Vor allem lag das Interesse der Gäste aus der Ukraine darin, auf folgende Fragen Antworten zu finden:
Inhaltlichen Input während der Studienreise lieferten Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft:
In Berlin: Einführungsinputs zu Transformationsprozessen in Kohleregionen in Deutschland: Einführung in die Kohleausstiegsdiskussion, Einordnung in die Energiewendestrategie, wirtschaftliche und soziale Aspekte von Transformationsprozessen, Beispielbetrachtung Lausitzer Braunkohleregion
- Stefanie Groll (Heinrich Böll Stiftung Berlin – Überblick über die Energiewende und die Kohleausstiegsdiskussion)
- Timon Wehnert (Wuppertal Institut – Überblick zu sozialverträglichen Transformationsstrategien in deutschen Kohleregionen)
- Pao-Yu Oei (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung und Technische Universität Berlin – Energiewende und wirtschaftliche Effekte auf den Kohlesektor)
- Nick Reimer (Journalist – historische Erfahrungen mit Strukturwandel in Deutschland)
- Hans-Rüdiger Lange (InnovationsregionLausitz – Beitrag der InnovationsregionLausitz zu einem erfolgreichen Strukturwandel in der Lausitz)
- Oliver Krischer (MdB, Bündnis 90/Die Grünen – politische Akteurskonstellationen in der Kohleausstiegsdiskussion)
In Essen/Düsseldorf: Strukturwandel im Ruhrgebiet – Erfahrungen und Wirkungen
- Ulrich Bohnen (Referat Regionale Entwicklung, Landesplanung, Regionale Aufrufe im Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen - Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein Westfalen)
- Uli Paetzel (Emschergenossenschaft/Lippeverband – Wassermanagement und Umbau des Flusssystems Emscher nach dem Ende des Bergbaus)
- Klaus Kordowski (Mercator Stiftung – zivilgesellschaftlicher Beitrag zum Strukturwandel und zur Energiewende in der Ruhrregion)
- Michael Kalthoff und Sabrina Manz (RAG Stiftung – Finanzierungsmechanismus zur Bewältigung der Ewigkeitsaufgaben nach der Kohleförderung)
- Besichtigung der Zeche Zollverein (Beispiel der Nachnutzung von Bergbauinfrastruktur)