Beide Nationen sind Einwanderungsländer und gleichzeitig mit dem Wegzug von Fachkräften konfrontiert. Wie ergeht es dabei Millionen Zuwanderern aus Zentralasien, dem Kaukasus und Fernost-Russland, die binnen weniger Jahre nach Russland geströmt sind, den „Gastarbejtery“ in Niedriglohnbranchen, für deren Integration es bislang kaum Mechanismen gibt? Welche Erfahrungen hat Deutschland, das erst heute offensiv mit Familiennachzug, Arbeitsmarkt-, Sprach- und Bildungsintegration umgeht? Wie fügen sich die Anforderungen einer strategischen Migrationspolitik und Toleranzbildung in aktuelle Entwicklungen ein, etwa in die Krise der EU oder die Stärkung nationalkonservativer Muster in Russland? Ziel ist, differenzierte Analysen und Diskussionen dieser Fragen im europäischen Kontext anzustoßen.
Die produktive Bewältigung der Migrationsströme ist für jede Gesellschaft und jeden Staat seit jeher eine der zentralen Herausforderungen. Dies gilt sowohl hinsichtlich ihrer fortlaufenden Modernisierungsaufgaben in der Wirtschaft, im Arbeitsmarkt, in den sozialen Sicherungssystemen, der Bildung und weiteren Politikfeldern als auch hinsichtlich ihrer demografischen Entwicklung, ihrer Integrationskraft und interkulturellen Bindungs- und Toleranzfähigkeit. Die Globalisierung und damit verbundene steigende Mobilität der Menschen haben diese Aufgaben noch einmal verstärkt. In beiden Ländern gehören die verschiedenen Aspekte der Migration, insbesondere beschäftigungs- und sicherheitspolitische, menschenrechtliche und ethische Fragen, derzeit zu den am stärksten erörterten Themen. Die 18. Deutsch-Russischen Herbstgespräche widmen sich daher den Herausforderungen in der Migrationspolitik Russlands und Deutschlands in einem europäischen Kontext.
Gerade in den vergangenen drei, vier Jahren wuchs der Einwanderungsdruck auf beide Länder überproportional – gespeist aus jeweils anderen Regionen und beruhend auf teilweise verschiedenen Gründen. Russland erlebt eine millionenstarke, überwiegend illegale Zuwanderung billiger, oft schlecht ausgebildeter Arbeitskräfte vor allem aus den zentralasiatischen Republiken Usbekistan, Tadschikistan, Kirgistan, aber auch aus der Ukraine, Belarus und Armenien – sämtlich postsowjetischen Ländern, in deren Mitte Russland erneut zu einem ökonomischen Kraftfeld mit großer Attraktivität für die BewohnerInnen der ärmeren Nachbarrepubliken geworden ist. Hinzu tritt eine – bislang überschaubare, aber bereits jetzt erhebliche Ängste auslösende – Einwanderung aus China vor allem in die Städte Sibiriens und des Fernen Ostens.
In Deutschland wirkt sich dagegen einerseits die Wirtschafts- und Finanzkrise in den südlichen Ländern der EU aus. Andererseits ist die Bundesrepublik der Zielpunkt zehntausender Flüchtlinge aus aktuellen und früheren Bürgerkriegsregionen, aber auch aus Armutsgebieten weltweit geworden – dem Irak, Afghanistan, Syrien, und nicht zuletzt der russischen Kaukasusrepublik Tschetschenien, aus der allein 2013 bereits etwa 10.000 Menschen meist über Polen ins Land kamen.
In Russland gehen die Behörden davon aus, dass die meisten Einwanderer nur für einige Monate oder bis max. zwei Jahre zum Arbeiten im Land sein werden. In der Medien- und Alltagssprache Russlands hat sich für diese Migrantengruppe heute ausgerechnet der deutsche Terminus „Gastarbeiter“ eingebürgert. Tatsächlich kann die Erfahrung Deutschlands – aus den wiederholten Zuwanderungswellen seit den 50er Jahren, die zum Teil auf bewusst geschlossene Regierungsabkommen zur zeitweiligen Anwerbung Arbeitswilliger aus Italien und Griechenland, später der Türkei und Jugoslawiens, zurückgehen – hier wichtige Thesen und Hinweise für denkbare Entwicklungsszenarien in Russland liefern, die im Rahmen der Deutsch-Russischen Herbstgespräche mit ausgeleuchtet werden sollen.
Denn die deutsche Erfahrung zeigt auch, dass zwar bis zum Anwerbestopp 1973 etwa elf der 14 Mio. GastarbeiterInnen – auch infolge umfangreicher staatlicher Rückkehrprogramme - wieder in ihre Heimatländer gezogen sind. Die Übrigen aber wurden über dauerhafte Ansiedlung, Familiennachzug und eigene Kinder zum Ausgangspunkt großer MigrantInnen-Gemeinschaften der ersten, zweiten und nun bereits auch dritten Generation. Deren Integrationsverhalten, ökonomische Erfolgsquoten, nationales, kulturelles, bürgerschaftliches, religiöses und Genderrollen-Selbstverständnis wurde infolge der aufgetretenen Konflikte zum Gegenstand ungezählter Diskurse, staatlicher und zivilgesellschaftlicher Aktionsprogramme. Sie gerieten jedoch auch zum Kristallisationspunkt xenophober Kräfte in der deutschen Aufnahmegesellschaft, bis hin zur Mordserie des NSU, und somit zum Ausweis unzureichend entwickelter Bereitschaft und Fähigkeit zu interkulturellem Zusammenleben.
Auch in Russland, dem traditionellen Vielvölkerstaat, ist der Streit um die Zuwanderung – obwohl sie wirtschaftlich gewollt und von vielen genutzt wird – zu einem politischen Kernthema worden, nicht zuletzt vor der Bürgermeisterwahl in Moskau im September 2013. Eine Umfrage im August 2013 ergab, dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung die Immigration als größte Bedrohung für ihren Staat überhaupt betrachtet. Spezifisch ist für Russland die hohe Zahl illegaler Einwanderer, die das Innenministerium 2008 auf 10 Mio., der Leiter des zuständigen Föderalen Migrationsdienstes (FMS) im März 2012 auf 3,5 Mio. schätzte. Viele MigrantInnen leben und arbeiten aufgrund ihres illegalen Status unter menschenunwürdigen Bedingungen. Spezifisch ist auch, dass auch ein Teil der russischen Binnenwanderung – jene aus dem meist muslimischen Nordkaukasus – als gefährliche, unerwünschte Migration gilt, obwohl sie die weltweit und auch in Russland stark wirksamen Tendenzen hin zu wachsender Bevölkerungskonzentration und Urbanisierung nur begleitet.
Der Staat reagiert darauf mittlerweile, geleitet von einer national-konservativen Politik und herausgefordert von zahlreichen interkulturellen Alltagskonflikten, die ihre Resonanz in der Gesellschaft finden, vielschichtig: Gewaltsame Razzien auf Stadtmärkten und in überfüllten illegalen Wohnungen gehören ebenso dazu wie die Schaffung – öffentlich heiß diskutierter – provisorischer Abschiebelager am Stadtrand, die an die deutschen Abschiebegewahrsame gemahnen, aber auch strengere Zuwanderungs- und Aufenthaltsgesetze, engere Arbeitsplatz-quoten, neue Pass- und Visapflichten für Bewohner der Nachbarländer und erste Elemente einer komplexeren Integrationspolitik: Sprachvermittlung, soziale Absicherung, Bildungsangebote für Kinder und Eltern, interkulturelle Konfliktlösungsgremien etc.
Für Deutschland wie Russland eröffnet die Zuwanderung ein großes Potential, um ihre starken demografischen Probleme zu lösen, die sich u.a. in der niedrigen Geburtenrate von nur rund 1,5 Kindern je Frau, in einer wachsenden Alterung und in einer – jenseits der Migrationseffekte – sinkenden Bevölkerungszahl manifestieren. 2012 hatte das Institut für Bevölkerung und Entwicklung in seiner Studie „Die demographische Zukunft von Europa“ klar resümiert: „Wenig Nachwuchs, alternde Bevölkerungen und eine zunehmende Zahl von Menschen aus anderen Ländern und Weltregionen werden Europa in den nächsten Jahrzehnten nachhaltig verändern. Die Weichen für diese Entwicklung wurden vor Jahrzehnten gestellt, aber den Höhepunkt der Alterung werden die europäischen Gesellschaften erst in 30 bis 40 Jahren erleben. Europas Bevölkerungszahl dürfte kaum noch weiter zulegen und könnte bald schon mit dem Schrumpfen beginnen. Alle anderen Weltregionen hingegen, mit Ausnahme von Russland, wachsen aufgrund hoher Kinderzahlen vorerst weiter.“
Beide Länder ringen in einem übergreifenden internationalen Wettbewerb mit einem spürbaren Verlust an intellektueller Kapazität durch Brain Drain – die Abwanderung hochqualifizierter Fachkräfte, die in der Suche nach Maximierung ihrer Chancen auf berufliche und persönliche Selbstverwirklichung den Weg in andere Länder wählen. Vor allem in Russland bilden der Zustrom schlecht gebildeter und der – von der Tendenz zu politischer Unfreiheit und wirtschaftlich-technischer Stagnation beförderte – Abfluss gut gebildeter Menschen einen eklatanten Gegensatz, der das Modernisierungs- und Demokratisierungspotential der russischen Gesellschaft nachhaltig zu untergraben droht.
Mit den Migrationsströmen gehen eine große Zahl von Fragen an die gesellschaftlichen Akteure und ihre Entwicklungschancen einher.
Erörtert werden sollen auf den 18. Deutsch-Russischen Herbstgesprächen von Vertretern markanter Bürgerinitiativen, von Analysten und Politikern aus Russland und Deutschland daher unter anderem folgende Fragen:
Ziele der Tagung:
Stefan Melle Dr. Rüdiger Sachau
Deutsch-Russischer Austausch Evangelische Akademie zu Berlin
Freitag, 15. November 2013
9.00-10.00 Uhr Anmeldung und Akkreditierung
10.00-10.30 Uhr Begrüßung und Einleitung
10.30-12.30 Uhr Herausforderung Migration: Eine Bestandsaufnahme zu aktuellen Entwicklungen in Russland und Deutschland
Moderation: Walter Kaufmann, Heinrich Böll Stiftung
12.30-13.30 Uhr Mittagsimbiss
13.30-15.00 Uhr Erfahrung mit Integration: Einwanderung und interkulturelle Verständigung nach 1950 in Deutschland und Russland
Moderation: Daniel Bax, Redakteur für Migration und Integration, Tageszeitung (Taz), Berlin
15.00-15.30 Uhr Kaffeepause
15.30-17.00 Uhr Arbeitsforen
Forum A: Interreligiöse und interkulturelle Aspekte der Zuwanderung
Moderation: Daniel Bax, Redakteur für Migration und Integration, Tageszeitung (Taz), Berlin
Forum B: Herausforderungen aus der Arbeitsmigration
Moderation: Dr. Mischa Gabowitsch, Soziologe und Zeithistoriker, Einstein Forum, Potsdam
Forum C: Tschetschenen in Deutschland
Moderation: Barbara Lehmann, freie Journalistin, Berlin
17.00–17.15 Uhr Rückkehr in die Französische Friedrichstadtkirche
17.15-18.45 Uhr Abschlusspanel. Aufgabe Bevölkerungspolitik: Bedarf, Legitimität und Handlungsmöglichkeiten für staatliche und nichtstaatliche Unterstützung von Migrations- und Integrationsprozessen
Moderation: Stefan Melle, Geschäftsführer Deutsch-Russischer Austausch e.V.
18.45 Uhr Schlusswort und Verabschiedung
19.00 Uhr Ende der Veranstaltung