Französische Friedrichstadtkirche auf dem Gendarmenmarkt, Berlin-Mitte
Mit Empfang zum 20-jährigen Bestehen des DRA im Haus der EKD, Charlottenstr.
Veranstalter: Deutsch-Russischer Austausch e.V.
Evangelische Akademie zu Berlin
Mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung, von Brot für die Welt und der Bundeszentrale für Politische Bildung
Nach den Duma-Wahlen 2011 hat in Russland eine Serie großer Protestdemonstrationen das seit dem Jahr 2000 unter Vladimir Putin geschaffene politische System erstmals grundsätzlich in Frage gestellt. Hunderttausende Menschen, überwiegend verbunden über das Internet, forderten nicht nur ehrliche Wahlen, Pressefreiheit und die Entlassung politischer Gefangener, sondern auch eine Überwindung der von Präsident und Regierungspartei Edinaja Rossija weitgehend monopolisierten sowie von Korruption belasteten Entscheidungs- und Verteilungsstrukturen. Doch die zivilgesellschaftlich getragene Protestbewegung stieß bald an spürbare Grenzen: Weder war sie in der Lage, größere Unterstützung in den Regionen zu mobilisieren, noch konnte sie demokratisch saubere Wahlen erreichen oder zu der auf Putin fixierten staatlichen Kampagne starke personelle und programmatische Alternativen bieten.
Seit Putins neuerlichem Amtsantritt im Mai 2012 haben der Präsident, die Regierungspartei, Behörden und Gerichte zielstrebig fast alle Felder, aus denen die Proteste erwachsen waren – Medien, Internet, Demonstrationsrecht, NGO-Recht u.a. – erheblich beschnitten und einzelne Protagonisten direkt verfolgt. Ungeachtet kleinerer Liberalisierungen, etwa im Parteienrecht, entstand der Eindruck einer Revanche. Mit dem Erlass eines NGO-Gesetzes, das sämtliche gesellschaftspolitisch profilierten und international unterstützten Bürgerorganisationen zu „ausländischen Agenten“ erklärt, sowie mit der Haftstrafe gegen die Punk-Band Pussy Riot fand diese repressive und diffamierende Linie ihre vorerst jüngsten Höhepunkte. Durch das neue NGO-Gesetz ist dabei auch die internationale zivilgesellschaftliche Kooperation mit Russland unmittelbar bedroht und wird der Beistand für russische Bürgerorganisationen aus dem Ausland insgesamt als illegitim und staatsfeindlich hingestellt worden.
Immer wieder verweisen Vertreter der russischen Regierung in diesem Zusammenhang auf tatsächlich oder angeblich ähnliche Gesetze und Richtlinien in westlichen Staaten – sei es in Bezug auf die Kontrolle von ausländischer Finanzierung für Nichtregierungsorganisationen, auf die Ahndung von Störungen in religiösen Räumen, Verleumdung und Hetzpublikationen im Internet oder auf die Verletzung der öffentlichen Ordnung bei Demonstrationen.
Tatsächlich weisen auch Deutschland und andere westliche Staaten Elemente einer systematischen Abwehr strukturell kritischer und alternativer Gesellschaftsbewegungen auf. Die Lager der kritischen Occupy-Bewegung wurden geräumt, deutsche Behörden verlangen pauschale Anti-Extremismus-Erklärungen von öffentlich geförderten Vereinen, die bloße Erwähnung von Vereinen in einem Verfassungsschutzbericht soll für den Entzug des Gemeinnützigkeitsstatus genügen, die Publikation interner, aber öffentlich relevanter Dokumente auf Plattformen wie Wikileaks wird als Geheimnisverrat bestraft.
Zugleich fasste in der Bundesrepublik und weiteren Ländern eine neue Partei, die Piraten, Fuß, deren Leitlinien – etwa maximale Verfügbarkeit von Internet-Inhalten, Transparenz und Bürokratie-Freiheit – ein verbreitetes Bedürfnis der Bevölkerung nach geringerer Institutionalisierung der politischen Verfahren aufgriff. Bisher konnten indes auch die Piraten jenem Prozess nicht ausweichen, den etwa die Grüne Partei seit den 80ern bewusst durchlief und den oppositionelle Gruppierungen in Russland heute als wichtige Grundrichtung für ihre künftige Arbeit und Entwicklung sehen – den „Marsch durch die Institutionen“ als Weg zum Erringen von eigener Beteiligung und Einflussmöglichkeit auf allen Ebenen der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. So kandidieren Aktivisten für kommunale Abgeordneten-Mandate oder, wie die Ökologin Evgenia Chirikova, für das Bürgermeisteramt ihrer Heimatstadt Chimki, die durch ihre Bürgerinitiative zum Waldschutz bekannt wurde.
Die NGOs wie die politisch oppositionellen Gruppen in Russland stehen heute, grundsätzlich angegriffen in ihren Rechten und ihrer gesellschaftlichen Legitimation durch die Regierung, vor der Frage, wie sie sich nicht nur verteidigen, sondern auch ihre Aufgaben weiter erfüllen und ihren Rückhalt in der Gesellschaft ausbauen können. Denn bestätigt hat sich erneut: Jede bürgerschaftliche Protestbewegung, die als demokratische Kraft breite Akzeptanz und als politische Alternative reale Wahlchancen erlangen möchte, benötigt eine milieuübergreifende Verankerung in der Bevölkerung sowie eine umfassende Zuschreibung von Integrität und Kompetenz durch die Wahlbürger, um das nötige Vertrauen für die potentielle Übernahme von Führungs- und Regierungsverantwortung zu erhalten.
Erörtert werden sollen auf den 17. Deutsch-Russischen Herbstgesprächen von Vertretern markanter Bürgerinitiativen, von Analysten und Politikern aus Russland und Deutschland daher unter anderem Fragen wie: Haben die Bürgerinitiativen und der Pluralismus noch Chancen, in der dritten Amtszeit Vladimir Putins mehr Bedeutung zu erlangen? Wie können zivilgesellschaftliche Kräfte in der Bevölkerung Unterstützung gewinnen, welche Modelle haben die deutsche und die russische Gesellschaft dazu entwickelt? Welchen Anspruch auf Schutz und Verwirklichung haben Forderungen von Minderheiten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft? Wie eigenständig sind die Zivilgesellschaft und die Protestbewegung in Russland und wie stark sind ausländische Implikationen? Welche Rolle spielen dabei die Verteidigung universeller Werte wie der Menschenrechte und diesbezügliche internationale Vereinbarungen? Was sind die aktuellen Ansatzpunkte für die Entwicklung der Demokratie und die Modernisierung in Deutschland und Russland?
Ziele der Tagung:
Stefan Melle Dr. Rüdiger Sachau
Deutsch-Russischer Austausch Evangelische Akademie zu Berlin
Freitag, 26. Oktober 2012
Ab 13.00 Uhr Anmeldung
14.30-15.00 Uhr Begrüßung und Einleitung
15.00-16.30 Uhr Große Proteste – große Revanche? Eine Bestandsaufnahme zur Entwicklung in Russland
Moderation: Boris Reitschuster, Focus, Berlin
16.30-17.00 Uhr Kaffeepause
17.00-19.00 Uhr Zivilgesellschaft ohne Mehrheit? NGOs zwischen Kritik und Unterstützung durch die Bevölkerung
Moderation: Angelina Davydova, Journalistin, Russisch–Deutsches Büro für Umweltinformation / Deutsch-Russischer Austausch, St. Petersburg
19.00 - 19.30 Uhr Filmpräsentation Historischer Rückblick: ZDF-Reportage über St. Petersburg 1992, die Anfänge der Zivilgesellschaft in Russland und den DRA
20.00- 22.30 Uhr Empfang mit Grußworten zum 20-jährigen Bestehen des Deutsch-Russischer Austausch e.V.
Samstag, 27. Oktober 2012
09.30-11.00 Uhr Zwischen Konservativen und Extremisten – wie der Staat sich vor Veränderung zu schützen versucht
Impulsreferate:
Moderation: Prof. Burkhard Breig, Freie Universität Berlin, Osteuropa-Institut, Abteilung Recht Osteuropas
11.00-12.30 Uhr Drei Runde Tische/ Arbeitsforen zu den vorangegangenen Themen
Kaffee in den Arbeitsforen im Haus der EKD, Charlottenstr. 53/ 54
Arbeitsforum A: Domzimmer Große Proteste – große Revanche?
Arbeitsforum B: Ratssaal Zivilgesellschaft ohne Mehrheit?
Arbeitsforum C: Kapellenvorraum Zwischen Konservativen und Extremisten – wie der Staat sich vor Veränderung zu schützen versucht
12.30-13.00 Uhr Mittagsimbiss
13.00-14.30 Uhr Kollegen, Unterstützer, Spione? – Die internationale Zusammenarbeit nach dem russischen NGO-Gesetz über „ausländische Agenten“
Moderation: Stefan Melle, Deutsch-Russischer Austausch e.V, Berlin
14.30 Uhr Schlusswort und Verabschiedung
14:45 Uhr Ende der Veranstaltung