17. Deutsch-Russische Herbstgespräche

Zivilgesellschaft ohne Bürgerrechte?
Staat und kritische Bürgerbewegungen in Russland und Deutschland

Französische Friedrichstadtkirche auf dem Gendarmenmarkt, Berlin-Mitte
Mit Empfang zum 20-jährigen Bestehen des DRA im Haus der EKD, Charlottenstr.

Veranstalter: Deutsch-Russischer Austausch e.V.
Evangelische Akademie zu Berlin

Mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung, von Brot für die Welt und der Bundeszentrale für Politische Bildung

 

Tagungsthema

Nach den Duma-Wahlen 2011 hat in Russland eine Serie großer Protestdemonstrationen das seit dem Jahr 2000 unter Vladimir Putin geschaffene politische System erstmals grundsätzlich in Frage gestellt. Hunderttausende Menschen, überwiegend verbunden über das Internet, forderten nicht nur ehrliche Wahlen, Pressefreiheit und die Entlassung politischer Gefangener, sondern auch eine Überwindung der von Präsident und Regierungspartei Edinaja Rossija weitgehend monopolisierten sowie von Korruption belasteten Entscheidungs- und Verteilungsstrukturen. Doch die zivilgesellschaftlich getragene Protestbewegung stieß bald an spürbare Grenzen: Weder war sie in der Lage, größere Unterstützung in den Regionen zu mobilisieren, noch konnte sie demokratisch saubere Wahlen erreichen oder zu der auf Putin fixierten staatlichen Kampagne starke personelle und programmatische Alternativen bieten.

Seit Putins neuerlichem Amtsantritt im Mai 2012 haben der Präsident, die Regierungspartei, Behörden und Gerichte zielstrebig fast alle Felder, aus denen die Proteste erwachsen waren – Medien, Internet, Demonstrationsrecht, NGO-Recht u.a. – erheblich beschnitten und einzelne Protagonisten direkt verfolgt. Ungeachtet kleinerer Liberalisierungen, etwa im Parteienrecht, entstand der Eindruck einer Revanche. Mit dem Erlass eines NGO-Gesetzes, das sämtliche gesellschaftspolitisch profilierten und international unterstützten Bürgerorganisationen zu „ausländischen Agenten“ erklärt, sowie mit der Haftstrafe gegen die Punk-Band Pussy Riot fand diese repressive und diffamierende Linie ihre vorerst jüngsten Höhepunkte. Durch das neue NGO-Gesetz ist dabei auch die internationale zivilgesellschaftliche Kooperation mit Russland unmittelbar bedroht und wird der Beistand für russische Bürgerorganisationen aus dem Ausland insgesamt als illegitim und staatsfeindlich hingestellt worden.

Immer wieder verweisen Vertreter der russischen Regierung in diesem Zusammenhang auf tatsächlich oder angeblich ähnliche Gesetze und Richtlinien in westlichen Staaten – sei es in Bezug auf die Kontrolle von ausländischer Finanzierung für Nichtregierungsorganisationen, auf die Ahndung von Störungen in religiösen Räumen, Verleumdung und Hetzpublikationen im Internet oder auf die Verletzung der öffentlichen Ordnung bei Demonstrationen.

Tatsächlich weisen auch Deutschland und andere westliche Staaten Elemente einer systematischen Abwehr strukturell kritischer und alternativer Gesellschaftsbewegungen auf. Die Lager der kritischen Occupy-Bewegung wurden geräumt, deutsche Behörden verlangen pauschale Anti-Extremismus-Erklärungen von öffentlich geförderten Vereinen, die bloße Erwähnung von Vereinen in einem Verfassungsschutzbericht soll für den Entzug des Gemeinnützigkeitsstatus genügen, die Publikation interner, aber öffentlich relevanter Dokumente auf Plattformen wie Wikileaks wird als Geheimnisverrat bestraft.

Zugleich fasste in der Bundesrepublik und weiteren Ländern eine neue Partei, die Piraten, Fuß, deren Leitlinien – etwa maximale Verfügbarkeit von Internet-Inhalten, Transparenz und Bürokratie-Freiheit – ein verbreitetes Bedürfnis der Bevölkerung nach geringerer Institutionalisierung der politischen Verfahren aufgriff. Bisher konnten indes auch die Piraten jenem Prozess nicht ausweichen, den etwa die Grüne Partei seit den 80ern bewusst durchlief und den oppositionelle Gruppierungen in Russland heute als wichtige Grundrichtung für ihre künftige Arbeit und Entwicklung sehen – den „Marsch durch die Institutionen“ als Weg zum Erringen von eigener Beteiligung und Einflussmöglichkeit auf allen Ebenen der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. So kandidieren Aktivisten für kommunale Abgeordneten-Mandate oder, wie die Ökologin Evgenia Chirikova, für das Bürgermeisteramt ihrer Heimatstadt Chimki, die durch ihre Bürgerinitiative zum Waldschutz bekannt wurde.

Die NGOs wie die politisch oppositionellen Gruppen in Russland stehen heute, grundsätzlich angegriffen in ihren Rechten und ihrer gesellschaftlichen Legitimation durch die Regierung, vor der Frage, wie sie sich nicht nur verteidigen, sondern auch ihre Aufgaben weiter erfüllen und ihren Rückhalt in der Gesellschaft ausbauen können. Denn bestätigt hat sich erneut: Jede bürgerschaftliche Protestbewegung, die als demokratische Kraft breite Akzeptanz und als politische Alternative reale Wahlchancen erlangen möchte, benötigt eine milieuübergreifende Verankerung in der Bevölkerung sowie eine umfassende Zuschreibung von Integrität und Kompetenz durch die Wahlbürger, um das nötige Vertrauen für die potentielle Übernahme von Führungs- und Regierungsverantwortung zu erhalten.

Erörtert werden sollen auf den 17. Deutsch-Russischen Herbstgesprächen von Vertretern markanter Bürgerinitiativen, von Analysten und Politikern aus Russland und Deutschland daher unter anderem Fragen wie: Haben die Bürgerinitiativen und der Pluralismus noch Chancen, in der dritten Amtszeit Vladimir Putins mehr Bedeutung zu erlangen? Wie können zivilgesellschaftliche Kräfte in der Bevölkerung Unterstützung gewinnen, welche Modelle haben die deutsche und die russische Gesellschaft dazu entwickelt? Welchen Anspruch auf Schutz und Verwirklichung haben Forderungen von Minderheiten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft? Wie eigenständig sind die  Zivilgesellschaft und die Protestbewegung in Russland und wie stark sind ausländische Implikationen? Welche Rolle spielen dabei die Verteidigung universeller Werte wie der Menschenrechte und diesbezügliche internationale Vereinbarungen? Was sind die aktuellen Ansatzpunkte für die Entwicklung der Demokratie und die Modernisierung in Deutschland und Russland?

Ziele der Tagung:

  • Information der deutschen Öffentlichkeit, Politik und NGOs werden über Veränderungen der  Gesellschaft in Russland seit den Duma-Wahlen und den Bürgerprotesten
  • Verdeutlichung der Rolle gesellschaftlicher Protestbewegungen als Impulsgeber und Katalysator für den permanenten Modernisierungsbedarf von Gesellschaften
  • Erarbeitung eines Leitverständnisses für die Aufgaben und Grenzen in der zivilgesellschaftlicher Entwicklungszusammenarbeit und der Unterstützung von Demokratisierungsbemühungen „von außen“
  • Klärung von Verhaltensoptionen für Partnerschaften im zivilgesellschaftlichen Bereich und Handlungsempfehlungen für NGOs und Förderinstitutionen im deutsch-russischen und europäisch-russischen Verhältnis für die künftige zivilgesellschaftliche Kooperation mit Russland nach dem russischen Gesetz über „ausländische Agenten“

Stefan Melle                                                  Dr. Rüdiger Sachau

Deutsch-Russischer Austausch                         Evangelische Akademie zu Berlin

Programm

Freitag, 26. Oktober 2012

Ab 13.00 Uhr         Anmeldung

14.30-15.00 Uhr     Begrüßung und Einleitung

 

  • Dr. Rüdiger Sachau, Evangelische Akademie zu Berlin
  • Stefan Melle, Deutsch-Russischer Austausch

 

15.00-16.30 Uhr     Große Proteste – große Revanche? Eine Bestandsaufnahme zur Entwicklung in Russland

  • Befindet sich Russland auf dem Weg in eine neue Diktatur? Welche übergreifende Idee verbindet die Schritte der russischen Regierung gegen die Protestbewegung?
  • Welche Folgen hat die Politik der russischen Regierung für das Land, seine Bevölkerung und seine Entwicklung?
  • Wie reagiert die Bevölkerung auf den Konflikt um Pluralismus und Modernisierung?
  • Welche Gründe gibt es für das Scheitern der russischen Protestbewegung?
  • Hat die Demokratie in Russland zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch eine Chance?

 

  • Ilya Ponomarev, Abgeordneter der Duma, Partei Gerechtes Russland , Moskau
  • Evgenij Gontmacher, Prof. der Wirtschaftswissenschaften, Vorstandsmitglied des "Instituts für zeitgenössische Entwicklung", Moskau
  • Svetlana Makovetskaya, Zentrum für zivilgesellschaftliche Analyse und unabhängige Forschung „Grani“, Perm
  • Patrick Kurth, Mitglied des Deutschen Bundestages, FDP, Berlin
  • Marieluise Beck, Mitglied des Bundestages, Fraktion B90/Grüne, Berlin

 Moderation: Boris Reitschuster, Focus, Berlin

16.30-17.00 Uhr     Kaffeepause

17.00-19.00 Uhr     Zivilgesellschaft ohne Mehrheit? NGOs zwischen Kritik und Unterstützung durch die Bevölkerung

  • Welche Rechte hat eine systemkritische Minderheit? Welche Verfassungsrahmen gibt es dafür in Russland und Deutschland?
  • Wo liegen Grenzen für die Legitimität von Veränderungsansprüchen?
  • Wie eigenständig ist die russische Protestbewegung und Zivilgesellschaft?
  • Welche Methoden haben die deutsche und russische Zivilgesellschaft entwickelt, um die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen?
  • Wie können öffentliche Proteste und alternative Gesellschaftskonzepte auf eine institutionelle Ebene transferiert werden?
  • Ist die institutionelle Etablierung von Reformpositionen Bedingung für ihre Durchsetzung?

 

  • Olga Kryschtanovskaya, Soziologin mit Schwerpunkt Elitenforschung, Leiterin des Forschungszentrums "Laboratorija Kryschtanovskoj", Wahlkampfbevollmächtigte des Russischen Präsidenten während der Wahlen 2012, Moskau
  • Olga Romanova, Journalistin, Aktivistin, Direktorin der NGO "Einsitzendes Russland", Moskau
  • Prof. Jürgen Marten, Initiative Transparente Zivilgesellschaft/ Vorstand Transparency International Deutschland e. V., Berlin
  • Susanne Rindt, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband (AWO), Leiterin Abt. Verbandsangelegenheiten, Engagementförderung und Zukunft der Bürgergesellschaft, Berlin

Moderation: Angelina Davydova, Journalistin, Russisch–Deutsches Büro für Umweltinformation / Deutsch-Russischer Austausch, St. Petersburg

19.00 - 19.30 Uhr   Filmpräsentation Historischer Rückblick: ZDF-Reportage über St. Petersburg 1992, die Anfänge der Zivilgesellschaft in Russland und den DRA

20.00- 22.30 Uhr    Empfang mit Grußworten zum 20-jährigen Bestehen des Deutsch-Russischer Austausch e.V.

 

Samstag, 27. Oktober 2012

09.30-11.00 Uhr     Zwischen Konservativen und Extremisten – wie der Staat sich vor Veränderung zu schützen versucht

 

  • Extremismus und Agententum: Begriffe und Instrumente zur Kontrolle von NGOs in Russland und Deutschland
  • „Ausländische Agenten“: das neue russische NGO-Recht im Vergleich mit internationalen Rechtsnormen
  • Verfassungsrahmen vs. politische Freiheiten: Bestärkung oder Konflikt?
  • Welche Rolle spielt das Justizsystem für die Durchsetzung der Rechte von gesellschaftspolitischen Minderheiten und Bürgerinitiativen?
  • Welche Aufgaben und Grenzen sind dem Staat beim Schutz der Gesellschaft gegenüber Veränderungen gesetzt?
  • Wie mobilisiert der Staat die Mehrheit für den Status Quo?

Impulsreferate:

  • Prof. Dmitrij Oreshkin, Politologe, Mitbegründer der "Mercator Group", Initiator der Bewegung "Bürger Wahlbeobachter", Institut für Geographie der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau
  • Timo Reinfrank, Stiftungskoordinator Amadeu Antonio Stiftung       

Moderation: Prof. Burkhard Breig, Freie Universität Berlin, Osteuropa-Institut, Abteilung Recht                            Osteuropas

11.00-12.30 Uhr     Drei Runde Tische/ Arbeitsforen zu den vorangegangenen Themen

Kaffee in den Arbeitsforen im Haus der EKD, Charlottenstr. 53/ 54

Arbeitsforum A: Domzimmer Große Proteste – große Revanche?

  • Eine Bestandsaufnahme zur Entwicklung in Russland u.a. mit Evgeny Gontmacher, Svetlana Makovetskaya, Boris Reitschuster, Aigul Sembaeva (DRA St. Petersburg), Jens Siegert (Heinrich Böll Stiftung, Moskau)

Arbeitsforum B: Ratssaal Zivilgesellschaft ohne Mehrheit?

  • NGOs zwischen Kritik und Unterstützung durch die Bevölkerung u.a. mit Olga Kryshtanovskaya, Olga Romanova, Prof. Jürgen Marten, Angelina Davydova, Elena Belokurova (Europäische Universität St. Petersburg), Stefan Melle (DRA Melle)

Arbeitsforum C: Kapellenvorraum Zwischen Konservativen und Extremisten – wie der Staat sich vor Veränderung zu schützen versucht

  •  u.a. mit Dmitrij Oreshkin, Timo Reinfrank, Prof. Burkhard Breig, Dmitrij Vorobjev (Unabhängiges Soziologisches Institut St. Petersburg)

12.30-13.00 Uhr     Mittagsimbiss

13.00-14.30 Uhr     Kollegen, Unterstützer, Spione? – Die internationale Zusammenarbeit nach dem russischen NGO-Gesetz über „ausländische Agenten“

 

  • Was bedeuten die Regelungen des russischen NGO-Gesetzes für die praktische Zusammenarbeit der NGOs und ihrer Partner im Ausland?
  • In welchen Formaten kann eine Kooperation mit russischen NGOs fortgesetzt werden? Erleidet sie thematische Einschränkungen?
  • Wie weit darf ausländische Unterstützung gehen? Was darf sie, was darf sie nicht?
  • Trägt eine ausländische Förderung künftig zur Stigmatisierung der russischen NGOs bei?
  • Wie ist das potentielle Spannungsverhältnis zwischen nationalen Souveränitätsrechten und universalen Menschenrechten zu lösen?

 

  • Dmitrij Oreshkin, Politologe, Mitbegründer der "Mercator Group", Initiator der Bewegung "Bürger Wahlbeobachter", Institut für Geographie der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau
  • Svetlana Makovetskaya, Zentrum für zivilgesellschaftliche Analyse und unabhängige Forschung „Grani“, Perm
  • Jens Siegert, Heinrich-Böll-Stiftung, Moskau
  • Prof. Michael Rutz, Mitglied des Lenkungsausschusses des Petersburger Dialogs e.V., Vorstandsmitglied des Deutsch-Russischen Forums e.V., Berlin-Hamburg

Moderation: Stefan Melle, Deutsch-Russischer Austausch e.V, Berlin

14.30 Uhr               Schlusswort und Verabschiedung

14:45 Uhr               Ende der Veranstaltung