Bürgerbeteiligung und zivilgesellschaftliche Kontrolle bei Entscheidungen zum Umgang mit radioaktivem Abfall

Im April 2016 haben die Umweltorganisationen Bellona und plotina.net! mit der Unterstützung von DRA, RNEI und des EU-Russland Zivilgesellschaftsforums das Projekt „Bürgerbeteiligung und zivilgesellschaftliche Kontrolle bei Entscheidungen zum Umgang mit radioaktivem Abfall“ initiiert.

Das Projekt sieht vor, dass sich Nichtregierungsorganisationen aus Russland, Deutschland, Frankreich, Finnland und Schweden über Partizipations- und Handlungsmöglichkeiten austauschen, relevante Initiativen und Lagerstätten in den genannten Ländern besuchen, „best practices“ der Bürgerbeteiligung zusammentragen und schließlich eine Publikation zum Thema verfassen.

Projektmaßnahmen

  • Besuch von Endlager in Finnland, Schweden, Frankreich und Deutschland
  • Organisation von öffentlichen Veranstaltungen mit Akteuren aus Gesellschaft und Politik
  • Abschlusskonferenz
  • Erstellung einer Internet-Plattform „Radioaktiver Abfall unter Bürgerkontrolle“
  • Erstellung und Veröffentlichung des Berichts „Bürgerbeteiligung und Radioaktiver Abfall in Europa und Russland“

Studienreise in Deutschland

Russische Fachleute informierten sich zu Bürgerbeteiligung beim Umgang mit radioaktiven Abfällen

Eine achtköpfige Gruppe von Mitarbeiter_innen russischer NGOs sowie von Tochtergesellschaften der Föderalen Agentur für Atomenergie Russlands (Rosatom) hielt sich am 27. und 28. September in Deutschland auf, um mit Politiker_innen, Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen über Formen der Bürgerbeteiligung beim Umgang mit hoch radioaktiven Abfällen zu sprechen und das Atommülllager Asse II in Niedersachsen zu besichtigen. Organisatorischer Partnerbei der Organisation der Studienreise war das Unabhängige Institut für Umweltfragen (UfU e.V.). Zu den Gesprächspartner_innen in Deutschland gehörten u.a. Sylvia Kotting-Uhl (atompolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und Mitglied der Endlager-Suchkommission), der Umweltaktivist und Politikwissenschaftler (FU Berlin/BTU Cottbus) Daniel Häfner sowie Vertreter der NGO aufpASSEn e.V. Das Interesse der Gäste galt insbesondere der Einbindung der Öffentlichkeit in die Endlagersuche in Deutschland, der Entstehung und Arbeitsweise der Endlager-Kommission sowie geologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Aspekten des Umgangs mit radioaktivem Müll. Im Anschluss an den Deutschlandbesuch reiste die Delegation nach Frankreich weiter. Infos zur bereits erfolgten Reise nach Schweden und Finnland auf Englisch HIER, auf Russisch HIER.

Ergebnisse eines Studienprojekts

Die sichere Kurz- und Langzeitverwahrung von weltweit schätzungsweise 250 Millionen Kubikmeter fester, radioaktiver Abfallstoffe stellt die Staaten dieser Erde vor einer enormen Herausforderung. Denn bislang gibt es noch keine verlässlichen technologischen Lösungen für eine sichere Lagerung.

Eine Gruppe von 7 Experten aus Russland - unter ihnen Vertreter aus Forschung, Atomindustrie und Zivilgesellschaft -, die sich mit der Regulierung von Sicherheitsstandards bei der Behandlung radioaktiver Abfälle und der Auswahl von Lagerstätten beschäftigt, hat 2016 Studienreisen nach Finnland, Schweden, Deutschland und Frankreich unternommen. Ziel war es, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, welche verschiedenen Ansätze und Erfahrungen von Entscheidungsfindungsprozessen in diesen Fragen in den genannten vier EU-Staaten existieren, insbesondere hinsichtlich Entscheidungsstrukturen, Öffentlichkeitsbeteiligung und Kontrolle durch staatliche sowie nichtstaatliche Akteure. Das Erfahrene sollte dabei helfen, Empfehlungen und Forderungen an die relevanten staatlichen Stellen in Russland zu formulieren.

Zu den Erkenntnissen zählen:

Entscheidungsfindungsprozess:

  • die Suche und Auswahl von Lagerstätten für radioaktive Abfälle werden in den EU-Staaten in der Regel auf Bundesebene unter der Beteiligung staatliche und nichtstaatlicher Akteure diskutiert und entschieden. In Russland werden solche Projekte auf Bundesebene in einzelnen zuständigen Fachbehörden, die der Föderalen Agentur für Atomenergie Russlands (Rosatom) nahestehen, entschieden. Die Prüfung und Genehmigung von Lagerstättenbauvorhaben liegen dann aber im Zuständigkeitsbereich regionaler und lokaler Verwaltungen. Problematisch daran ist, dass dadurch die Auseinandersetzung um bestmögliche Verfahren zentralisiert und geschlossen nur in einzelnen Fachbehörden stattfindet und die regionalen Verwaltungen später nur noch auf gefallene Entscheidungen reagieren können. Diese besitzen oft aber nur eingeschränkte Kapazitäten, um eine qualifizierte Prüfung vorzunehmen oder ein Veto gegen ein staatlich aufgelegtes Programm einzulegen. Akteure auf der regionalen Ebene benötigen einerseits mehr Zuständigkeiten und Handlungsfähigkeit im Entscheidungsfindungsprozess, andererseits sollten regionale Standort- und Sicherheitsfragen auf Bundesebene über die Behörden hinaus analysiert und diskutiert werden.
  • Es sei wichtig, vielfältige Meinungen, Expertisen und Positionen in die Entscheidungsfindungsprozesse einzubeziehen. Für Russland heißt das, dass nicht-staatliche Organisationen und unabhängige Forschungseinrichtungen, aber auch staatliche Einrichtungen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten, vor allem regionale und lokale Verwaltungen im Verhältnis zu Rosatom ein größeres Mitsprache- und Vetorecht bekommen sollten.

 

Kontrollmechanismen:

  • in den besuchten EU-Staaten gibt es beim Sicherheitsmanagement für radioaktive Abfälle eine Teilung zwischen den Instanzen, die über Sicherheitsstandards entscheiden, die Sicherheitsstandards umsetzen sollen und die Umsetzung kontrollieren sollen. Im Gegensatz dazu werden in Russland die Grundlagen für Sicherheitsstandards im Umgang mit radioaktiven Müll vornehmlich vom staatlichen Unternehmen Rosatom, seiner Tochterunternehmen und ihnen nahestehende staatliche Behörden formuliert. Gleichzeitig wacht Rosatom aber auch über die Einhaltung der Standards. Rosatom ist demnach sowohl eine staatliche Agentur als auch ein staatlicher Unternehmer, der unter anderem AKWs betreibt. In Westeuropa und den USA sind die radioaktiven Müll produzierenden Unternehmen mittlerweile größtenteils privatisiert. In Russland besteht also eine nicht von Dritten kontrollierte Konzentration von Zuständigkeiten beim Hersteller radioaktiver Abfälle. Die für die Sicherheit notwendige kritische Überwachung der Einhaltung von Sicherheitsstandards sowie die Qualität dieser Standards könnten darunter leiden. Laut den StudienreiseteilnehmerInnen besteht dabei das Risiko, dass Fehler wiederholt werden, die westeuropäische Staaten beim Sicherheits- und Abfallmanagement in der Atompolitik in den 1970er Jahren gemacht haben. Die Regulierung der atomaren Sicherheit und der Behandlung radioaktiver Abfälle hatten in dieser Zeit eher einen zentralisierten, intransparenten Charakter, pluralistische Kontroll- und Partizipationsansätze wurden ausgeklammert. Das führte zu kostenintensiven und sicherheitsgefährdenden Fehlentscheidungen, gesellschaftlichen Protesten und Kritik. Aus diesen Erfahrungen heraus hat sich in Westeuropa heute ein Ansatz der Kooperation zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren herausgebildet. Um solche Fehlentscheidungen, die aus einem zu engen Kreis interdependenter Entscheider und Kontrolleure resultieren, für Russland zu vermeiden, empfehlen die StudienreiseteilnehmerInnen den frühzeitigen Aufbau von Sicherheitsregel- und Kontrollsystemen sowie Entscheidungsstrukturen in Russland, die pluralistische, unabhängige, sektorenübergreifende und professionelle Interessengruppen einbeziehen.

Institutionelle und technische Änderungen

  • Technische Lösungen bei der Lagerung radioaktiver Abfälle müssen in Russland kritisch neu überprüft werden und beste verfügbare Techniken angewendet werden. Dabei könnte ein international engerer Austausch hilfreich sein.
  • Gesetze und Standards bezüglich der Atomsicherheit müssen angepasst werden: ein Vetorecht bei Entscheidungen über Lagerstätten, die Umkehrbarkeit und Neuprüfungsmöglichkeit von Entscheidungen sowie die nachträgliche Herausnahme von bereits gelagerten Abfällen sollten fest geregelt werden. Zudem sollten die Regelungen detailliert auf Umweltwirkung, Umweltverträglichkeitsprüfungen und gesellschaftliche Partizipation eingehen.

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