Das DRA-Programm „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ wird seit 2018 vom DRA е.V. in Zusammenarbeit mit Partnern aus den Ländern Osteuropas und Deutschland umgesetzt.
Unser zentrales Anliegen ist es, Menschen mit Behinderung in der Osteuropa einen gleichberechtigten Zugang zu Kunst und Kultur zu ermöglichen.
Alle Maßnahmen und Kooperationen des DRA in Russland wurden am 26. Mai 2021 eingestellt. Weitere Informationen dazu HIER.
Es gibt viele alltägliche Situationen, in denen Menschen mit Behinderung auf Probleme stoßen, die ihre gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft erschweren oder unmöglich machen: das betrifft z.B. Rollstuhlfahrer:innen, Menschen mit Hör- oder Sehbehinderung oder auch Menschen mit geistiger Behinderung. Viele von ihnen waren noch nie in ihrem Leben in einem Museum oder in einem Kino - nicht, weil sie es nicht wollen, sondern weil die passenden Angebote dafür fehlen und weil sie durch ihre Umgebung und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eingeschränkt werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich viele Menschen fragen: „Aber warum sollte ein blinder Mensch ins Museum gehen können, wenn er dort eh nichts sehen kann?” Nicht weniger groß, als die physischen Barrieren sind daher die sogenannten „Barrieren in den Köpfen“ der Menschen.
Diese Situation möchte wir mit unserem internationalen Programm "INKuLtur - Für Inklusion und kulturelle Teilhabe" ändern!
Projektabschluss
Am 30.06.2022 ging die zweite Auflage von INKultur zu Ende. In mehr als zwei aufregenden und turbulenten Jahren haben wir zahlreiche Weiterbildungsveranstaltungen zu Inklusion und Barrierefreiheit in Kultureinrichtungen in vier Ländern organisiert und eine multimediale Wanderausstellung geschaffen. Die Erweiterung des Projektes um die Ukraine, Georgien und Armenien hat uns besonders gefreut. Neben produktiven und nachhaltigen Kooperationen haben wir in den Zielländern gemeinsam ein stärkeres Bewusstsein für die Rechte und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung geschaffen. INKuLtur und seine Partner gaben Kultureinrichtungen den Anstoß, sich stärker mit Inklusion zu beschäftigen, und das Thema selbstständig weiter zu entwickeln und zu fördern.
Ein für alle zugängliches Museum: Was bedeutet das? Wie sieht Barrierefreiheit in diesem Bereich aus? Um jedem Menschen die Möglichkeit bieten zu können, Kunst und Ausstellungsobjekte zu erkunden und zu erleben, sind eine grundlegende Aufklärung, ein offener Austausch mit dem bestehenden und potentiellen Publikum und ein barrierefreier Zugang wichtig.
Diesen und vielen weiteren spannenden Fragen gehen wir in unserem Videokurs “Interactive Inclusion - A Beginner’s Guide to Inclusion in the Cultural Sphere” nach.
Im Frühjahr 2022 startete die Produktion des Videokurses mit zehn Expert:innen aus dem Inklusions- und Kulturbereich, welche in unserem Kurs über ihre beruflichen und persönlichen Erfahrungen sprechen und Anregungen für notwendige und wünschenswerte Maßnahmen für mehr Barrierefreiheit in Museen aufzeigen.
Die neun entstandenen Videos wurden zum einen in dem barrierefreien Co-Working Space “Studio Tüchtig” in Berlin und zum anderen in der Berlinischen Galerie gedreht und geben nicht nur einen theoretischen Einblick, sondern veranschaulichen auch anhand praktischer Beispiele wie Museumsbesuche inklusiver gestaltet werden können.
Um jedem Menschen die Möglichkeit bieten zu können, Kunst und Ausstellungsobjekte zu erkunden und zu erleben, sind eine grundlegende Aufklärung, ein offener Austausch mit dem bestehenden und potentiellen Publikum und ein barrierefreier Zugang wichtig.
Neugierig geworden und Lust mehr zu erfahren?
Hier findet ihr den Trailer zum Kurs:
Interactive Inclusion__Trailer - YouTube
Der gesamte Kurs ist in zwei Einheiten in deutscher Lautsprache mit englischen und russischen Untertiteln verfügbar. Eine Version mit ukrainischen Untertiteln ist in Arbeit.
Hier geht es zu unserem kostenlosen Videokurs auf Udemy:
Deutsche Version
Interactive Inclusion_Deutsch_Part_I
Interactive Inclusion_Deutsch_Part_II
Englische Version
Interactive Inclusion_English_Part_I
Interactive Inclusion_English_Part_II
Russische Version
Interactive Inclusion_Русский_Часть_I
Interactive Inclusion_Русский_Часть_II
Zehn Expert:innen aus dem Inklusions- und Kulturbereich sprechen für dieses Tutorial in neun Videos über ihre beruflichen und persönlichen Erfahrungen und geben Anregungen für notwendige und wünschenswerte Maßnahmen für mehr Barrierefreiheit in Museen. Sie zeigen Handlungsfelder auf und erklären anhand konkreter Beispiele, wie ein schöner Museumsbesuch für alle ablaufen kann – angefangen von der Planung bis hin zum eigentlichen Aufenthalt.
Ein Exempel in Sachen Inklusion und Barrierefreiheit setzt die Berlinische Galerie. Andreas Krüger ist dort in diesem Bereich als Referent tätig und erzählt von erfolgten Umsetzungen, die etwa rein visuell ausgerichtete Ausstellungen für blinde und sehbehinderte Menschen erlebbar machen. Kunst sinnlich erfahrbar zu gestalten, um mehr Menschen zu erreichen, ist auch die Anregung von Michael Gerr. Er ist Referent für menschenrechtsbasierte Behindertenpolitik, setzt sich für eine inklusive Gesellschaft und Menschenrechte ein und spricht über die UN-Behindertenrechtskonvention und Begriffe der Barrierefreiheit.
Zur Kreativität ermutigt ebenso Stefanie Wiens, Kulturmanagerin und Initiatorin des inklusiven Kulturvermittlungsprojektes <Platz da!>. Sie erklärt, warum nach dem Mehr-Sinne- bzw. Mehrsprachigkeitsprinzip gehandelt und gearbeitet werden sollte – und wie ein Museum mit kleinem Budget für großen, allseitigen Wohlfühl- und Willkommensfaktor sorgen kann. Gemeinsam mit ihrer <Platz da!>-Kollegin Patricia Carl, ehrenamtliche Leiterin des BKMF (Bundesverband kleinwüchsige Menschen und ihre Familien e.V.) und tätig im Entwicklungsministerium, geht sie auf Barrieren ein, die nicht nur während eines Besuchs im Museum, sondern auch davor und danach auftreten. Silja Korn ist die erste blinde Erzieherin Deutschlands und ebenfalls Beraterin bei <Platz da!>. Für das Tutorial veranschaulicht sie zusammen mit Stefanie Wiens Szenarien, auf die ein blinder oder sehbehinderter Mensch stoßen kann, wenn er in ein Museum kommt – und bindet ihre Perspektive dabei in die Lösungsvorschläge mit ein.
Wie vielfältig die Bedürfnisse und die Wege des Erlebens sind, darauf geht auch Annalena Knors genauer ein. Sie ist Gründerin von Corporate Inclusion und berät Museen, damit Barrierefreiheit als Querschnittsaufgabe wahrgenommen und sich der Entscheidungen in diesem Bereich angenommen wird. Eine dieser Entscheidungen betrifft digitale Maßnahmen: Wie eine barrierefreie Website aufgebaut sein sollte und worauf in der Technik, Grafik und Redaktion zu achten ist, darüber sprechen Marie Lampe, Mitglied des gemeinnützigen Vereins Sozialhelden e.V. und aktiv tätig im deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband, und Holger Dieterich, Vorstandsmitglied des Vereins und Diplom-Designer. Im Verein Sozialhelden e.V. sind auch Judyta Smykowski, Redaktionsleiterin von „Die Neue Norm“ und Leidmedien.de, und Andi Weiland, Projektleiter von Gesellschaftsbilder.de und freier Fotograf. Ihr Fokus liegt auf klischeefreier Sprache und Bildsprache und die schriftliche sowie fotografische Abbildung von Menschen auf Augenhöhe.
Ein besonderer Dank geht an das Team der Drehorte, insbesondere dem Studio Tuechtig.
Weiterer Dank geht an das gesamte Drehteam:
Sowie:
Der Videokurs wurde im Rahmen des DRA-Programms „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ organisiert und aus Mitteln der Europäischen Union und des Auswärtigen Amtes gefördert.
Bei einem Weiterbildungsseminar in Charkiw am 20.-21. November wurde eine spezifische Zielgruppe angesprochen - das Aufsichtspersonal in Museen. Anastasiia Voitiuk („Der unbegangene Weg“), Maria Jasenowska („Öffentliche Alternative“) und Igor Shramko, Direktor der Charkiwer Vereinigung blinder Rechtsanwälte, diskutierten dabei folgende Fragen:
· Wie kommuniziert man mit Behinderten als Besucher, damit sie sich nicht diskriminiert fühlen?
· Wie begleitet man sie, macht ihnen den Besuch angenehmer und barrierefreier?
Von September bis Dezember 2021 war das Projekt INKultur auch im Südkaukasus aktiv und organisierte mehrere Weiterbildungsseminare in Georgien und Armenien.
Zum ersten Online-Weiterbildungsseminar in Georgien 22.Oktober 2021 waren Vertreter:innen von georgischen Kultureinrichtungen eingeladen. Nach Informationen der georgischen Partnerorganisation Anika ist der Wissensstand über Inklusion im Kulturbereich in Georgien relativ niedrig, daher gestaltete die Leiterin und Inklusionsexpertin Christiane Schrübbers es als Grundlagenseminar. Einen Teil des Seminars bildete eine Gruppenarbeit, in der die 18 Teilnehmer:innen Konzepte für Inklusion in der eigenen Kultureinrichtung entworfen und diskutiert haben.
Als Kernthemen wurden dabei die fehlende Vertrauensbasis von Menschen mit Behinderung gegenüber Menschen ohne Behinderung und umgekehrt sowie die mangelnde Sensibilität für Besuchergruppen von Kultureinrichtungen mit Seh-, Hör-, oder Lernbehinderung besprochen. Eine physische Zugänglichkeit vieler kultureller Orte sei dagegen bereits gesichert. In einer abschließenden Feedbackrunde wurde die Bedeutung von Bildungsveranstaltungen im Bereich Inklusion und Kultur hervorgehoben sowie die Sensibilisierung der Kulturmitarbeit:innen mit Menschen mit Behinderung betont.
Inklusive Maßnahmen bei kleinem Budget und diskriminierungsfreie Sprache
Für das zweite Weiterbildungsseminar 12.11.2021 bereitete Martin Conze, Experte für inklusive Kulturarbeit und Partizipation, für die 18 Teilnehmenden einen praxisbezogenen Workshop via Zoom vor. Der Schwerpunkt war dabei die Umsetzung von inklusiven Maßnahmen in Kultureinrichtungen mit begrenzten finanziellen Mitteln und die Erstellung von nachhaltigen Aktionsplänen für Inklusion und Barrierefreiheit. Nach interessanten Ideen und Inputs der georgischen Teilnehmenden sprach sich Martin Conze für weitere internationale Netzwerktreffen aus, denn so profitieren auch deutsche Institutionen davon und der Wissenstransfer findet nicht einseitig statt.
Der dreiteilige Workshop-Zyklus endete am 06.12.2021 mit einem Seminar für georgische Vertreter:innen von Kultureinrichtungen und NGOs. Dirk Sorge von “Berlinklusion”, der bereits in der Vergangenheit als Experte für INKuLtur tätig war, konzentrierte sich auf diskriminierungsfreie Kommunikation und erläuterte die verschiedenen Termini Integration, Inklusion, Segregation und Exklusion. Da Sprache eine große Macht habe, kann sie Diskriminierung und Missverständnisse schaffen. Die Gäste berichteten, welches Wording in Georgien im Zusammenhang mit Menschen mit Behinderung genutzt wird, wobei starke Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Georgien identifiziert wurden.
Weiterbildungsseminar in Gjumri: Sind Inklusionsansätze übertragbar?
Vom 26-28. November 2021 fand in Kooperation mit Emili Aregak Zentrum der Caritas Aregak Foundation das erste Weiterbildungsseminar im armenischen Gjumri als Präsenzveranstaltung statt. Eingeladen waren 20 Vertreter:innen der einflussreichsten kulturellen Institutionen aus Gjumri und Jerewan. Die neun Workshops konzentrierten sich u.a. auf Themen wie die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und ihre Anwendung in Armenien, Kommunikation und Interaktion mit
Menschen mit Behinderungen, Tourismus und kulturellem Leben mit Behinderung sowie praktischen Strategien bei kleinem Budget. In anschließenden Diskussionen wurde gemeinsam über die Frage beraten, ob und wie sich deutsche Inklusionsansätze auf armenische Kultureinrichtungen übertragen lassen.
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Projektabschluss und unser Fazit
Am 31.12.2022 ging die zweite Auflage von INKultur zu Ende. In zwei aufregenden und turbulenten Jahren haben wir zahlreiche Weiterbildungsveranstaltungen zu Inklusion
und Barrierefreiheit in Kultureinrichtungen in vier Ländern organisiert und eine multimediale Wanderausstellung geschaffen. Die Erweiterung des Projektes um die Ukraine, Georgien und Armenien hat uns besonders gefreut. Neben produktiven und nachhaltigen Kooperationen haben wir in den Zielländern gemeinsam ein stärkeres Bewusstsein für die Rechte und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung geschaffen. INKuLtur und seine Partner gaben Kultureinrichtungen den Anstoß, sich stärker mit Inklusion zu beschäftigen, und das Thema selbstständig weiter zu entwickeln und zu fördern.
Von 12. bis 19. Dezember 2020 fanden in fünf ukrainischen Regionen Weiterbildungsseminare über Inklusion und Barrierefreiheit statt. Neben den am Programm „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ beteiligten Projektregionen aus Kyjiw, Lwiw und Slowiansk, fanden zusätzlich Seminare in den Regionen Charkiw und Riwne statt.
Für die Vorbereitung und Umsetzung der Seminare sowie für die Möglichkeit eines internationalen Austausches, wurden deutsche und ukrainische Expert:innen im Bereich Inklusion und Kultur eingeladen.
Die Ziele der Seminare bildeten die allgemeine Sensibilisierung für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung, das Erlernen der Spezifika in der Kommunikation, sowie die Diskussion über bestehende Barrieren in Kultureinrichtungen und Strategien für deren Abbau.
In Ramen der Seminare wurden vielfältige Fragen zu Barrierefreiheit sowie Best-Practice Beispiele in Kultureinrichtungen behandelt, darunter unter anderem:
- Grundlagen des Inklusionsverständnisses in Bezug auf Exklusion, Integration, Vielfalt, Diversity pädagogische und psychologische Merkmale der Arbeit mit Menschen mit Behinderung;
- Ethische Grundsätze der Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung, darunter diskriminierungsfreie Sprache und Begrifflichkeiten;
- Entwicklung von inklusiven Ansätzen in Kultur und Tourismus;
- Prinzipien des universellen Designs in der Bibliotheksarbeit usw.
Die während der Seminare geschaffene vertrauensvolle und kooperative Atmosphäre ermutigte die Teilnehmenden ohne Behinderung offen über ihre Ängste und Stereotypen gegenüber Menschen mit Behinderung zu sprechen. Der direkte Austausch mit Menschen mit Behinderung ermöglichte eine unmittelbare Auseinandersetzung mit Ängsten und Unsicherheiten. Das Ziel der Weiterbildungsseminare lag nicht zuletzt gerade in der Überwindung vorhandener Stereotypen und Befangenheit gegenüber Menschen mit Behinderung. Dies bildet die Grundlage für inklusive Strukturen in Kultureinrichtungen.
Alle Interessierten haben die Möglichkeit, einige Seminarthemen online auf unserem YouTube-Kanal zu sehen.
Das Seminar wurde im Rahmen des trilateralen DRA-Programms „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ organisiert, welches in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen aus Russland, der Ukraine und Deutschland umgesetzt und aus Mitteln der Europäischen Union und des Auswärtigen Amtes gefördert wird.
INKuLtur: Liebe Frau Schrübbers, Sie bieten Seminare und Beratungen im Bereich der Barrierefreiheit in Museen und Gedenkstätten. Auch in unserem Programm „INKuLtur“ waren Sie vor kurzem als Referentin für dieses Thema im Einsatz. Können Sie sagen, was ist für Sie das Herausfordernde und das Faszinierendste an dieser Arbeit?
Christiane Schrübbers: Ich bin Pädagogin im Museum. Museum soll ein identitätsstiftender Ort sein. Das heißt, wer kommt, soll dort reden dürfen. Ich arbeite dafür, dass alle Museumsbesucher reden und mitreden können. Für mich ist es faszinierend zu sehen, wie die elitäre und akademische Einrichtung Museum durch die Umsetzung von Barrierefreiheit niederschwellig wird und trotzdem gehaltvoll bleibt. Eine Herausforderung ist die Arbeit an Texten: in einfacher Sprache und gutem Stil die Gedanken klar zu machen und auf den Punkt zu bringen.
INKuLtur: In einem Seminar im Rahmen des Programms haben Sie vor kurzem mit Mitarbeiter:innen der Kultureinrichtungen in Russland über die „Barrierefreie Öffentlichkeitsarbeit“ gesprochen. Was bezeichnet, Ihrer Meinung nach, eine erfolgreiche und effektive barrierefreie Öffentlichkeitsarbeit?
Christiane Schrübbers: Eine erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit transportiert die Willkommenskultur, die in einem Haus herrscht. Wenn jeder Besucher, jede Besucherin vor dem Betreten des Hauses weiß, dass sie umfassenden Nutzen vom Aufenthalt erwarten kann und dass der Besuch komfortabel sein wird, dann ist Öffentlichkeitsarbeit effektiv.
INKuLtur: Können Sie für Menschen, die mit dem Konzept der Barrierefreiheit noch nicht wirklich vertraut sind, kurz erklären, was Sie unter der Inklusion im Kulturbereich verstehen?
Christiane Schrübbers: Inklusion heißt: Vielfalt fördern und darstellen. Wir leben am Ende einer Epoche, in der man dachte, jeder Mensch ist 170 cm groß, 75 Kilo schwer, hat einen scharfen Blick wie ein Adler und zehn kräftige Finger. Darum waren alle Tische entsprechend hoch, Stühle entsprechend breit und die Buchstaben lieber elegant als klar. Wir leben gleichzeitig am Anfang einer Epoche, in der man sieht: Jeder einzelne sieht anders aus, hat verschiedene Talente und braucht verschiedene Dinge. Weil wir für Gleichberechtigung sind, wollen wir, dass alle am gesellschaftlichen Leben teilhaben, sich einbringen, es mitgestalten. Eine möglichst große Vielzahl verschiedener Menschen soll mit einem Produkt, einer Dienstleistung, der Architektur oder dem öffentlichen Raum gut zurechtkommen. Also muss man für das Sitzen und Lesen, das Laufen und Hören Alternativen zum alten Standard anbieten. Darum fordern wir ein Design für ALLE, bei dem so oft wie möglich mindestens zwei Kanäle zur Rezeption angeboten werden. Ich nenne drei Beispiele:
INKuLtur: Liebe Frau Schrübbers, wir danken Ihnen für das Gespräch, es war sehr aufschlussreich.
This interview was produced with the financial support of the European Union. Its contents are the sole responsibility of author and do not necessarily reflect the views of the European Union.
Das junge Museum „Omsker Kunst“ nimmt als eines der ersten Museen der Region am internationalen Programm „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ teil. Im Kulturzentrum fanden mehrere Workshops zu den Themen Inklusion, Schaffung von Barrierefreiheit in kulturellen Einrichtungen und Arbeit mit Menschen mit Behinderung statt. Wir sprachen mit der Leiterin des Museums, Larissa Timkova, darüber, welche Hoffnungen und Pläne die Mitarbeiter:innen mit ihrer Teilnahme an diesem großen internationalen Projekt verbinden.
–Warum haben Sie sich dazu entschlossen, am Programm INKuLtur teilzunehmen?
– Es gibt zwei Gründe für unsere Teilnahme am Projekt INKuLtur. Ungeachtet seiner 30-jährigen Geschichte ist unser Museum eines der jüngsten Museen in Omsk. Mit seinem Umzug in ein neues Gebäude im März 2018 erhielt es die Möglichkeit, seine Räume für Besucher:innen zu öffnen und aktiv zu werden. Unser junges Team entdeckt nun alle Bereiche der Museumsarbeit für sich, und dazu gehört auch die Arbeit mit Besucher:innen unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen körperlichen Möglichkeiten und Schwierigkeiten. Da uns selbst das nötige Wissen fehlt, weil das Museum über lange Zeit nicht für die Öffentlichkeit zugänglich war, müssen wir von den Erfahrungen anderer Einrichtungen und Fachleute lernen. Der zweite Grund ist, dass Menschen mit Behinderungen auf uns zugekommen sind, weil sie in uns Partner und Verbündete sehen, die nicht nur bereit sind, sie in ihre Arbeit zu integrieren, sondern sie auch ihre eigenen Kunstwerke in den Museumsräumen ausstellen lassen. Dieser Austausch erfordert eine angemessene Kommunikation, und darin müssen wir uns beständig weiterbilden.
– Inwieweit ist die Schaffung einer inklusiven Umgebung für Omsk ein aktuelles Thema?
– Es ist aktuell, so wie für jede andere Stadt auch. Unser Umfeld wird immer aggressiver und gefühlloser. Die Zahl der Menschen mit physischen und psychischen Problemen wächst und damit auch die Zahl der Museumsbesucher:innen mit besonderen Bedürfnissen. Die Mitarbeiter:innen von Museen müssen lernen, sie zu verstehen und ihnen eine angenehme und gut zugängliche Umgebung zu schaffen, so wie für alle anderen Besuchergruppen auch.
– Haben Sie Besucher:innen mit Behinderungen? Welche Vorzüge bietet Ihr Museum diesen Menschen im Vergleich zu anderen Orten?
– Gegenüber der Mehrzahl der anderen Omsker Kultureinrichtungen haben wir nur einen Vorteil für mobilitätseingeschränkte Besucher:innen: einen Aufzug, mit dem man sich bequem durch das Museum bewegen kann. Ansonsten können wir noch nicht von einem größeren Komfort als bei anderen sprechen, denn wir können noch nicht allen Besucher:innen gute Bedingungen bieten. Es gibt noch viel zu tun, wir stehen erst am Anfang, aber im Unterschied zu den großen Museen haben wir, da wir mit zeitgenössischen Künstler:innen und Werken arbeiten, mehr Freiheit und Komfort in der künstlerischen Kommunikation.
– Das Museum befindet sich in einem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. Wie schwer ist es, dieses an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen anzupassen? Was ist noch zu tun?
– Im Unterschied zu anderen Museen, die schon lange in historischen Gebäuden untergebracht sind, in denen die Umbauten noch anstehen, wofür wiederum die Exponate in andere, bedarfsgerechte Räumlichkeiten verlagert werden müssen, ist unser Gebäude bereits restauriert und hat sowohl einen Aufzug als auch eine Rampe. Die übrige technische Ausstattung für Menschen mit Seh- und Hörbehinderungen ist nur noch eine finanzielle Frage und erfordert keine bauliche Umgestaltung des Gebäudes mehr. Unser Haus stammt aus dem Jahr 1823, es wurde als Kasernenunterkunft gebaut und hat große Räume, die nicht mit architektonischen Elementen überfrachtet sind und in denen genügend Platz ist, um sich auch im Rollstuhl gut darin bewegen zu können.
– Was werden Sie im Rahmen Ihrer Teilnahme am Programm INKuLtur aktiv tun und umsetzen?
– In erster Linie ist es für uns ein Bildungsprojekt, mit dem wir unseren Horizont erweitern und uns Wissen aneignen wollen, das uns bei der Arbeit mit besonderen Besuchergruppen noch fehlt. Die Räumlichkeiten des Museums sowie die Zufahrtswege und Eingänge werden von Fachleuten dahingehend geprüft, ob sie für Menschen mit Behinderungen bequem nutzbar sind. So erhalten wir professionelle Tipps, was Menschen mit Behinderungen in unserem Museum noch brauchen.
– Welche Kenntnisse und praktischen Erfahrungen zu diesem Thema benötigen Ihre Mitarbeiter:innen?
– Sie brauchen Kenntnisse für die Professionalisierung ihrer Arbeit in diesem Bereich und darin, wie die Ausstellungen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden können, inwieweit die Ausstellungen technisch angepasst oder ggf. auch neukonzipiert werden müssen. Sie müssen lernen, wie besondere Ausstellungsprojekte für einzelne Besucher:innengruppen entwickelt werden können. Und sie müssen sich mit der Terminologie dieser Thematik vertraut machen und lernen, welche Besonderheiten es in der Kommunikation mit Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gibt.
– Welche Hoffnungen verbinden Sie mit der Umsetzung des Projektes in Ihrem Museum?
– Wir hoffen, dass wir dаdurch den eingeschränkten Horizont unserer eigenen Arbeit erweitern können.
Das Programm „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ wird vom DRA e. V. gemeinsam mit Partnern aus Deutschland, Russland und der Ukraine und mithilfe der finanziellen Unterstützung der Europäischen Union in Russland und des Auswärtigen Amtes umgesetzt.
„Für den Inhalt dieser Publikation ist der DRA e. V. verantwortlich. Sie spiegelt nicht unbedingt die Ansichten der Europäischen Union und des Auswärtigen Amtes wider.“
Die Umstellung auf Homeoffice und Homeschooling trug 2020 wesentlich dazu bei, dass Bildung, Kunst und Kultur insgesamt zugänglicher wurden. Auf einmal erhielten alle Menschen die Möglichkeit, die besten Museen und Theater vieler Länder online zu besuchen. Ein anschauliches Beispiel dafür, wie sehr kulturelle Einrichtungen in der Lage sind, sich innerhalb kurzer Zeit anzupassen und ihre Türen für alle zu öffnen, auch für Menschen mit Behinderung. Das Museum „Omsker Kunst“ war dieser Entwicklung allerdings schon um einige Jahre voraus. Seit 2015 bieten die Mitarbeiter:innen des Museums Führungen für Menschen mit Behinderung an. Natalia Garajeva, leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin, Verantwortliche für die gestalterische Projektarbeit des Museums und Autorin der Ausstellung „Geschichte der Kalligraphie“, war eine der ersten, die sich dieser Aufgabe annahm. Seit 2020 nimmt das Museum darüber hinaus am internationalen Programm „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ teil, dank dessen es seine Arbeit um neue Bereiche erweitern kann.
– Frau Garajeva, hatten Sie Hemmungen oder Befürchtungen, als Sie zum ersten Mal eine Führung für Menschen mit Behinderung durchgeführt haben?
– Meine erste Führung für Menschen mit Behinderungen habe ich 2015 gemacht. Damals war das Museum gerade in ein eigenes Gebäude umgezogen, in dem wir unsere Ausstellungen zeigen konnten. Eines Tages erhielten wir einen Anruf aus einer Schule für hörgeschädigte Kinder. Wir wurden gefragt, ob uns nicht eine gesamte Schulklasse besuchen könne. Ich wurde sofort panisch, denn ich hatte keinerlei Erfahrungen in der Arbeit mit behinderten Kindern. Mir wurde aber versichert, dass die Klasse mit einem Betreuer und einem Dolmetscher kommen würde, die bei der Kommunikation behilflich sein würden. Ich erinnere mich, wie wir durch den Raum liefen und ich mich während der Besichtigung bemühte, besonders klar und deutlich zu sprechen. Mir wurde allerdings recht schnell klar, dass ich mir keine Sorgen darum zu machen brauchte, jede und jeden zu erreichen, sondern dass ich auch um Unterstützung bitten und den Kindern selbst Fragen stellen konnte und von ihnen alles erklärt bekam. Nach dieser ersten Führung begriff ich, dass es möglich und notwendig ist, solche Begegnungen durchzuführen.
In Omsk gibt es schon recht lange Organisationen, die gute Angebote für Menschen mit Behinderung haben. Diese Struktur entstand in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, mit der Gründung der Sowjetunion. Alle bestehenden Organisationen verfügen über eigene Schulen und Betriebe. Mit der Zeit wandten sich nicht nur Vertreter:innen der erwähnten Schule, sondern auch andere Einrichtungen an uns. Seit das Museum 2018 schließlich in das historische Stadtzentrum umgezogen und nun bequem mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist, beschäftigen wir uns noch aktiver mit dem Thema Inklusion.
– Was ist das Besondere an Führungen für Menschen mit Behinderung?
– Man muss mehr Pausen machen, den Zuhörer:innen die Möglichkeit zum Ausruhen geben, und man muss den Wunsch haben, eine gemeinsame Sprache mit ihnen zu finden. Eigentlich gibt es in unserem Museum schon fast alles, was notwendig ist, damit auch Menschen mit Behinderungen herkommen können: eine Rampe, einen geräumigen Aufzug mit Tasten, auf denen taktile Zeichen zu finden sind, sowie Videokameras. Unsere Mitarbeiter:innen helfen den Besuchern dabei, mit ihrem Rollstuhl ins Gebäude zu gelangen, unterstützen an der Garderobe und dabei, den richtigen Raum zu finden. Menschen mit Bewegungseinschränkungen können also jederzeit zu uns kommen. Die Kassen sind so angeordnet, dass man auch vom Rollstuhl aus bequem eine Eintrittskarte kaufen kann. Das Einzige, was im Moment noch fehlt, ist eine Ruftaste. Das wurde uns bei den letzten Seminaren klar, die wir im Rahmen unserer Teilnahme am internationalen Programm „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ besuchten. Während des Seminars wurde uns mithilfe von Daten und Zahlen genau erklärt, wie alles gestaltet sein muss, damit Besucher:innen mit Behinderungen sich bei uns wohlfühlen können. Wichtig sind beispielsweise der Neigungswinkel der Rampen, die Frage, ob Türen verglast sind, und vieles mehr. Insgesamt ist unser Fazit, dass wir uns ohne INKuLtur viele Fragen gar nicht gestellt hätten.
– Sie sagten, dass es in der Sowjetunion gut funktionierende Strukturen für Menschen mit Behinderungen gab. Hatten Sie denn selbst Kontakt zu Menschen mit Behinderungen? Bestand nicht eher der Eindruck, dass diese isoliert von der übrigen Gesellschaft waren?
– Meine persönlichen Erfahrungen sind wohl eher ungewöhnlich. Ich wurde 1970 geboren, also in der spätsowjetischen Zeit. Ich wuchs in einer Kasernenanlage auf, die schon per se relativ isoliert war. Aber in unserem Haus lebte ein junger Mann, der bei seiner Geburt eine Verletzung erlitten hatte und dessen geistiger Entwicklungsstand mit zwanzig Jahren dem eines sechs Monate alten Kindes entsprach. Ich kannte ihn gut, unsere Familien hatten die Wohnungen getauscht, weil seine Familie eine Wohnung im Erdgeschoss brauchte. Alle wussten, dass diese Familie es schwer hatte, und halfen, wo sie konnten. Ich habe nie eine Abneigung oder Angst vor Menschen mit Behinderungen verspürt. Überhaupt kamen nach dem Krieg immer mehr Menschen mit schweren Verletzungen in unsere Region, ohne Arme oder Beine, viele waren aus Moskau, von wo sie zwangsumgesiedelt wurden. Das war keine schöne Geschichte, aber auf jeden Fall gab es hier immer viele Menschen mit Behinderung, der Kontakt zu ihnen war etwas ganz Normales.
– Welche inklusiven Führungen gibt bereits es in Ihrem Museum, und wie laufen sie ab?
– Wir arbeiten mit mehreren Einrichtungen zusammen, z. B. mit dem Solodnikov-Krankenhaus für klinische Psychiatrie und mit der Schule für hörbehinderte Kinder. Unser Museum verfügt über ein Atelier für gestalterische Projektarbeit, an der auch Menschen mit Sehbehinderung teilnehmen können. Jede Führung wird von uns individuell vorbereitet. Normalerweise unterscheiden sich die inklusiven Führungen nicht von denen für Menschen ohne Behinderung, aber sie erfordern einen anderen Ansatz, eine andere Sprache und ein anderes Tempo der Informationsübermittlung. Wir bemühen uns, unseren Gästen zuzuhören und auf ihre Bedürfnisse, ihr Alter und ihre Besonderheiten einzugehen.
– Was ändert sich im Leben von Menschen mit Behinderungen, wenn sie beginnen, Kultureinrichtungen zu besuchen und sich Neues erschließen?
– Alle Menschen sind natürlich unterschiedlich. Viele Menschen mit Behinderung sind gezwungen, einen Großteil ihres Lebens zu Hause zu verbringen. Wenn sie jedoch ein Museum besuchen, erweitern sie ihren Horizont und treten in Kontakt mit anderen. Wir können beobachten, wie nach und nach ihr Selbstvertrauen wächst, wie sie sich weiterentwickeln, sich gebraucht fühlen und sich zugestehen, fast genauso zu leben wie alle anderen Menschen auch. Just heute habe ich eine unserer regelmäßigen Besucherinnen gesehen, die im Rollstuhl sitzt: Sie ist unheimlich aktiv, hat viele Follower in den sozialen Netzwerken, ist künstlerisch tätig – sie interessiert sich für alles. Und es gibt viele solcher Beispiele. Für Menschen mit Behinderungen ist es ganz besonders wichtig, sich zu beschäftigen und soziale Kontakte zu pflegen.
– Was möchten Sie im Rahmen Ihrer Teilnahme am Programm INKuLtur verändern?
– Während der ersten Seminare wurde uns vor allem erst einmal das Ausmaß der Probleme bewusst, und wir konnten definieren, was wir direkt in den nächsten Monaten ändern können. Zunächst wollen wir im Museum Menschen mit Behinderungen alle notwendigen Informationen bereitstellen – Begleittexte, ein Leitsystem, Symbole – und außerdem die Ausstellungen so gestalten, dass sie auch für Gäste im Rollstuhl zugänglich sind. Das liegt im Bereich des Möglichen, dessen, was wir sofort umsetzen können. Über größere Projekte zu sprechen, ist es noch zu früh. Das Wichtigste aber, was sich im Museum geändert hat, ist die Einstellung der Mitarbeiter:innen. Viele von uns haben zum Beispiel nach den Seminaren gesagt, dass sie gerne die Gebärdensprache erlernen möchten.
Das Programm „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ wird vom DRA e. V. gemeinsam mit Partnern aus Deutschland, Russland und der Ukraine und mithilfe der finanziellen Unterstützung der Europäischen Union in Russland und des Auswärtigen Amtes umgesetzt.
„Für den Inhalt dieser Publikation ist der DRA e. V. verantwortlich. Sie spiegelt nicht unbedingt die Ansichten der Europäischen Union und des Auswärtigen Amtes wider.“
Vom 14.–18. November 2020 fand im Kaliningrader Museum für Geschichte und Kunst ein Seminar für Mitarbeiter:innen kultureller Einrichtungen mit Vorträgen von Expert:innen aus Kultureinrichtungen und NGOs statt.
Lena Scharova, Kuratorin der Bildungsabteilung des Museums des russischen Impressionismus (Moskau), berichtete über ihre Erfahrungen mit Führungen und Ausstellungsprogrammen mit Audiodeskription für blinde und sehbehinderte Besucher:innen. Darüber hinaus schilderte sie, wie das Museum Menschen mit Behinderungen als Seminarleiter, Museumsführer, Lektoren und Künstler gewinnt. So wurde beispielsweise zur Ausstellung „Ich habe das Wort! David Burljuk“ eine Theaterperformance entwickelt, bei der Blinde, Gehörlose, Taubblinde und Künstler:innen mit geistigen Behinderung die Poesie des „Silbernen Zeitalters“ mithilfe ihrer Stimme, Gebärdensprache und Körperplastik darboten. Musikalisch wurde diese Performance durch Jazz untermalt.
Im Museum des russischen Impressionismus gibt es zudem ein Tanzlabor mit dem Titel „Auf der Suche nach einem Platz unter der Sonne“ für sehbehinderte und blinde Besucher:innen. Es handelt sich hierbei um ein inklusives, genreübergreifendes Projekt, das erfolgreich im Museum umgesetzt wurde. Im Tanzlabor konnten die Gäste mithilfe von Audiodeskription Bilder anschauen und ihre Emotionen durch modernen Tanz unter Anleitung eines Choreografen wiedergeben. Bei einem weiteren einzigartigen Museumsprojekt mit dem Titel „Aroma der Epoche“ konnten blinde Besucher:innen die Atmosphäre, die auf Kunstwerken dargestellt ist, „erschnuppern“. Parfümeur:innen und Kurator:innen des Museums kreierten sechs originelle Düfte, darunter auch das auf Grundlage von Erinnerungen und dokumentierten Quellen hergestellte Lieblingsparfüm von Anna Achmatowa.
Lada Talysina, Mitarbeiterin der gemeinnützigen Stiftung „DownSide UP“ und Expertin für leichte Sprache (Moskau), erläuterte die Grundlagen für eine erfolgreiche Interaktion und Kommunikation im Rahmen von Führungen für Menschen mit Down-Syndrom. Dazu gehören die Nutzung visueller Hilfsmittel, eine schrittweise Bereitstellung von Informationen, die Reduzierung ablenkender Faktoren und das Vorführen des gewünschten Verhaltens. Die Expertin verwies darauf, dass für Menschen mit Down-Syndrom die Anpassung der Informationen – z. B. mithilfe methodischer Handreichungen für leichte Sprache – von großer Relevanz sei. Die entsprechend angepassten Texte sollten durch Fachleute geprüft werden.
Auch Lada Jefimova aus dem Sankt Petersburger Zentrum für Menschen mit Autismus „Anton tut rjadom“ („Anton ist gleich nebenan“) hielt einen Fachvortrag. Sie unterstrich die Signifikanz der sozialen Geschichte als eine Methode für die Arbeit mit behinderten Menschen. Damit ein Museumsbesuch bei Menschen mit einer geistigen Behinderung oder Autismus keine Stresssituation auslöst, sollten ihnen bereits im Vorfeld Informationen über den Ort und die Veranstaltung zur Verfügung gestellt werden. Das kann auf der Webseite des Museums erfolgen. Die soziale Geschichte beinhaltet die Darstellung konkreter Situationen. Um ihren Stress zu bewältigen, lernen die im Zentrum „Anton tut rjadom“ betreuten Menschen deshalb zunächst das Museumsgebäude und dessen Umgebung kennen. Erst dann kann ein Ausstellungsbesuch für sie stressfrei erfolgen. Mitarbeiter:innen mit Besucherkontakt sollten im Vorfeld unter anderem darin geschult werden, wie sie sich Besucher:innen mit Behinderung gegenüber korrekt verhalten, welche Terminologie angemessen ist und welche Besonderheiten für die eine oder andere Ausstellung zusätzlich zu beachten sind.
Am letzten Seminartag fand eine Online-Schulung mit der deutschen Expertin Christiane Schrübbers und Mitarbeiter:innen des Bernsteinmuseums statt, bei der erörtert wurde, inwieweit diese Kultur-Piloteinrichtung für alle Besucherkategorien zugänglich ist.
Im Anschluss an die Arbeit mit den Expert:innen wurden verschiedene Maßnahmen für 2021 geplant. So wird beispielsweise für hörende Kinder mit gehörlosen Eltern ein inklusives Format entwickelt, das gleichzeitig zwei Zielgruppen erreicht: eine Führung für Erwachsene mit Verdolmetschung in Gebärdensprache sowie eine Bildungsrallye für deren Kinder. Lena Scharova vom Museum des russischen Impressionismus berichtete von einer Führung für sehende Besucher:innen, denen die Augen verbunden werden, was bei den Mitarbeiter:innen des Bernsteinmuseums auf großes Interesse stieß. Für die Umsetzung eines solchen Projektes werden nun taktile Modelle einiger Exponate des Bernsteinmuseums mit Fördermitteln aus dem internationalen Programm „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ bestellt. Solche Führungen, bei denen jeweils ein Blinder dem Museumsführer assistiert, geben normal sehenden Menschen die Möglichkeit, sich in die Lage eines blinden Menschen einzufühlen. Für das Aufsichtspersonal sowie für die Mitarbeiter:innen an der Garderobe und den Kassen sind Schulungen zum Umgang mit Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen im Museumskontext vorgesehen. Auch die Erstellung eines Videoguides mit Gebärdensprache, der auf die Webseite des Museums eingestellt werden wird, ist in Planung. Als Expert:innen in eigener Sache sollen Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen ins Museum eingeladen werden, um ihre Einschätzung über die Zugänglichkeit dieser Kultureinrichtung zu geben. Für geistig behinderte Menschen sollen Veranstaltungen im Rahmen einer Ausstellung zum Weltall durchgeführt werden, deren Eröffnung für 2021 geplant ist.
Das Seminar wurde im Rahmen des trilateralen DRA-Programms „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ organisiert, welches in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen aus Russland, der Ukraine und Deutschland umgesetzt und aus Mitteln der Europäischen Union und des Auswärtigen Amtes gefördert wird.
Als eine der Piloteinrichtungen des Programms „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ entwickelt das Innovative Kulturzentrum in Pervouralsk im Gebiet Sverdlovsk barrierefrei zugängliche Kultur- und Freizeitaktivitäten für Menschen mit Behinderungen. Darüber, wie die nicht jedem bekannte „Inklusion“ zu einer echten Verwirklichung des Rechtes von Menschen mit Behinderungen auf Teilhabe am kulturellen Leben wird, möchten wir heute berichten.
Vier Tage lang, vom 16. bis 19. Oktober 2020, lernten mehrere eingeladene Expert:innen das Innovative Kulturzentrum (IKZ) sowie seine verschiedenen Fachabteilungen kennen und besuchten zwei inklusive Veranstaltungen. Die deutsche Expertin Christiane Schrübbers evaluierte die Tätigkeit des Zentrums mithilfe eines Films, der eigens zu diesem Zweck gedreht worden war. Eine weitere Expertengruppe analysierte die Arbeit des IKZ, indem sie die Ergebnisse eines Fragebogens zur Inklusion auswertete, der bereits zu einem früheren Zeitpunkt im Rahmen des Programms INKuLtur erstellt worden war. Die darin enthaltenen Fragen bezogen sich auf die Zugänglichkeit der Exponate des Museums für verschiedene Besuchergruppen, die verstärkte Bereitstellung von taktilen Objekten, die Gestaltung des Geländes vor dem Gebäude, Trainings für die Mitarbeiter:innen zur Interaktion mit Besucher:innen sowie die Erneuerung der Audioguides.
Die Mitarbeiter:innen des IKZ besuchten Online-Seminare zur Arbeit mit Menschen mit geistigen und Sinnesbeeinträchtigungen, deren Einbeziehung in die Tätigkeit von Museen, die Schaffung von Zugänglichkeit von Museen sowie barrierefreier Öffentlichkeitsarbeit. Aufgrund des virtuellen Formates konnten daran auch Vertreter:innen anderer Kultureinrichtungen des Gebietes Sverdlovsk sowie weiterer Regionen teilnehmen, die ebenfalls erkannt haben, wie wichtig die gleichwertige Teilhabe an Kultur- und Freizeitaktivitäten für Menschen mit Behinderungen ist.
Menschen mit Behinderungen können sich nur dann in die moderne Gesellschaft integrieren, wenn sie vollwertig an allen Lebensbereichen teilhaben können. Dazu gehört auch die Kultur. Doch wie können gehörlose Menschen ins Theater gehen oder Blinde ein Museum besuchen, wenn sie die Stimmen der Schauspieler nicht hören und Bilder nicht sehen können? Kann ein Mensch im Rollstuhl gleichberechtigt an einer wissenschaftlichen Konferenz teilnehmen, wenn es keine Rampen oder Aufzüge im mehrstöckigen Kulturzentrum gibt? Wohl kaum!
„Finden Sie durch Untersuchungen heraus, welcher Bedarf an inklusiven Projekten und Programmen in der Bevölkerung besteht. Wenn man seine Adressaten und deren Bedürfnisse kennt, lässt sich viel zielgerichteter arbeiten“, so beschreibt Julia Galagusova, Professorin und Dr. habil. der Erziehungswissenschaften, die als Expertin am Programm INKuLtur teilnahm, den Ausgangspunkt für Veränderungen.
Vladislav Kolesnikov, Leiter des Bereichs zur Schaffung von Barrierefreiheit und Umsetzung inklusiver Programme des Staatlichen Historischen Museums in Moskau, regte an, Menschen mit Behinderungen als Expert:innen in eigener Sache in die Entwicklung und Erarbeitung solcher Programme sowie in die sich anschließende Pilotphase der Umsetzung einzubeziehen.
Nach der Veranstaltungsreihe im Oktober und dem Online-Seminar mit der deutschen Expertin Frau Schrübbers führten die Mitarbeiter:innen des IKZ und die Programmkoordinator:innen ihre laufende Arbeit fort und analysierten die Ergebnisse sowie Empfehlungen der Expert:innen in Bezug auf die Tätigkeit des Zentrums.
Inzwischen arbeiten die Mitarbeiter:innen des Innovativen Kulturzentrums täglich an der Entwicklung einer barrierefreien, inklusiven Gestaltung des Zentrums. Unter Berücksichtigung der Expertenmeinungen brachte jede Abteilung eigene Vorschläge ein. Die Hauptaufgabe besteht nunmehr darin, Aufgaben zu den fünf Hauptkomponenten der Inklusion zu entwickeln und diese in den kommenden Jahren nach und nach umzusetzen.
Dem Ratschlag der deutschen Expertin Christiane Schrübbers folgend, entschied das Team des IKZ während der Umsetzungsphase, sich auf zwei Zielgruppen zu konzentrieren – auf blinde bzw. sehbehinderte Menschen sowie auf gehörlose bzw. schwerhörige Menschen. Vor allem die Dauerausstellungen müssen für diese Gruppen angepasst werden: das Museum für Industriekultur der Bergbauregion und die Dauerausstellung „Kunst der Animation“.
Lada Talysina, Methodikerin und Pädagogin der gemeinnützigen Stiftung „DownSide UP“, die als Expertin für die Arbeit mit geistig behinderten Menschen am Projekt teilnahm, schlug vor, das Museum in verschiedene thematische Bereiche zu untergliedern, die Schritt für Schritt mit entsprechenden Hilfsmitteln zugänglich gemacht werden können und an deren Inhalte geistig Behinderte allmählich herangeführt werden; auch ihr Vorschlag wurde aufgenommen.
Ein Teil der Maßnahmen richtet sich an diese Zielgruppe. In Zusammenarbeit mit der Partnerorganisation des Programms INKuLtur, der gemeinnützigen Organisation „Blagoe delo“ („Gute Tat“), ist eine Ausstellung mit Bildern und kunstgewerblichen Gegenständen, die von Menschen mit geistigen Behinderungen gefertigt wurden, geplant. Außerdem finden weiterhin Motivationstreffen mit Rollstuhlfahrer:innen statt. Perspektivisch soll zudem ein Plan für inklusive Kunstveranstaltungen erstellt werden.
Tagtäglich setzen die Mitarbeiter:innen des Innovativen Kulturzentrums kleine Puzzleteile aus Empfehlungen und eigenen Ideen zusammen, um so das große Gesamtbild der verschiedenen Möglichkeiten vollwertiger kultureller Teilhabe von Menschen mit Behinderungen endlich mit Leben zu füllen.
Die Veranstaltungen wurden im Rahmen des trilateralen DRA-Programms „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ organisiert, welches in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen aus Russland, der Ukraine und Deutschland umgesetzt und aus Mitteln der Europäischen Union und des Auswärtigen Amtes gefördert wird.
Vom 19 bis 22 Oktober 2020 fand in der wissenschaftlichen Regionalbibliothek in Pskow das internationale Seminar „Eine Bibliothek als inklusive Kulturinstitution“ statt. Die Pskower Bibliothek ist eine der 4 Piloteinrichtungen, die seit September 2020 am Programm „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ teilnimmt.
Internationale und russische Expert:innen arbeiteten mit den Teilnehmenden innerhalb von 4 Tagen intensiv in den Bereichen Inklusion, Barrierefreiheit und Zugänglichkeit.
Eeva Rantamo, Inklusionsexpertin und Gründerin des Büros “Kulturprojekte - Inklusive Kulturarbeit” (Dortmund) erzählte über die grundlegenden Prinzipien von Kommunikation und Zusammenarbeit mit Besucher:innen mit unterschiedlichen Bedürfnissen. Außerdem gab Eeva Rantamo einen Überblick über inklusive Öffentlichkeitsarbeit, erklärte die wichtigsten Kriterien für eine inklusive und barrierefreie Bibliothek und die Organisation von inklusiven Veranstaltungen.
Julia Naumowa, Leiterin des Laboratoriums für inklusive und soziale Projekte an der russischen staatlichen Bibliothek für Jugendliche (Moskau, Russland) stellte moderne Methoden der Arbeit mit Jugendlichen mit geistiger Behinderung vor.
Aleksandra Isaewa, Gehörlosenpädagogin und Spezialistin für die Anpassung von Museumsprogrammen für Gehörlose und Schwerhörige sowie Museumsführerin in der „Eremitage“ (Sankt Petersburg, Russland) erzählte über die Besonderheiten der Interaktion mit Menschen mit einer Hörbehinderung und über die Überwindung von existierten Stereotypen. Darüber hinaus konnte Frau Isaewa ihre eigenen Erfahrungen mit einer Hörbehinderung in die Diskussionen und Prozesse des Seminars mit einbringen.
Am ersten Tag diskutierten die Teilnehmenden das Konzept für Barrierefreiheit der Bibliothek. Das Konzept beinhaltet neue Parkplätze für Besucher:innen mit Behinderung, einen elektrischen Aufzug, einen Fahrstuhl, taktile Fliesen für sehbehinderte und blinde Menschen. Darüber hinaus erhielten die Teilnehmenden Informationen über die langjährigen Erfahrungen in der Arbeit mit Leser:innen von der “Pskower Regionalbibliothek für Kinder und Jugendliche mit Behinderung Kaverin” und der “Pskower Regionalen Spezialbibliothek für Blinde und Sehbehinderte.”
Innerhalb des Seminars wurden vielfältige Fragen zu Barrierefreiheit in der Praxis behandelt:
Die Arbeit wurde in Form von (Online-) Seminaren und Workshops durchgeführt. In einem praktischen Workshop von Julia Naumowa wurden die Teilnehmenden in Kleingruppen aufgeteilt und sollten eine inklusive Veranstaltung für Menschen mit Behinderung vorzubereiten.
Außerdem hatten alle Interessierten die Möglichkeit, die Seminare online zu verfolgen.
Das Seminar wurde im Rahmen des trilateralen DRA-Programms „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ organisiert, welches in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen aus Russland, der Ukraine und Deutschland umgesetzt und aus Mitteln der Europäischen Union und des Auswärtigen Amtes gefördert wird.
Die Gewinner des Auswahlverfahrens für die Teilnahme am internationalen Programm „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ stehen seit Anfang September fest! Unter Kultureinrichtungen aus verschiedenen Regionen Russlands, wie aus Jekaterinburg und der Swerdlowsker Region, aus Pskow und der Pskower Region, aus Omsk und der Omsker Region und aus Kaliningrad und der Kaliningrader Region wurden vier ausgewählt, um Piloteinrichtungen für den Ausbau eines inklusiven Umfelds in ihrer Region zu werden.
Die Gewinner der Ausschreibung sind:
Die Arbeit mit den Piloteinrichtungen dient der Einführung inklusiver Strukturen und dem Abbau von Barrieren sowohl in den genannten Institutionen als auch in anderen regionalen Kultureinrichtungen durch den Transfer von Wissen und Erfahrung.
In der jetzigen Phase wird eine internationale Expert:innengruppe gebildet, die die Einrichtungen auf ihre Stärken und Schwächen hin analysieren und bewerten wird, Maßnahmen zum Ausbau eines inklusiven und barrierefreien Umfelds bestimmen und einen individuellen Umsetzungsplan ausarbeiten wird. Das Personal jeder Piloteinrichtung wird darin geschult werden, die Barrierefreiheit der Institutionen und ihrer Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung zu gewährleisten.
„Für uns war es sehr wichtig, gerade die Einrichtungen auszuwählen, die Inklusion als Chance zum Wachstum und zur Verbesserung ihrer Arbeit sehen, die verstehen, dass es bei einem barrierefreien Umfeld nicht in erster Linie um Rampen geht, sondern um die Einstellung zum Menschen“, bemerkte die INKuLtur-Programmkoordinatorin Nataliia Zviagintseva (DRA e.V.).
Ein kurzes Wort zu jeder Einrichtung:
Die Regionale Wissenschaftliche Bibliothek Pskow / Псковская областная универсальная научная библиотека schreibt ihre Geschichte seit 1833. Sie ist nicht nur den Bewohner:innen der Stadt Pskow ein Begriff, sondern auch in der ganzen Region bekannt. Sie ist ein methodisches Zentrum für das gesamte Bibliothekennetz der Pskower Region, dem 293 Bibliotheken angehören. Außerdem wurde das Gebäude der Bibliothek kürzlich umfassend renoviert. Seit dem 1. September 2020 hat es wieder geöffnet und ist nun auch für Mitbürger:innen mit geringer Mobilität zugänglich.
Die Regionale Wissenschaftliche Bibliothek Pskow. Aus dem Fotoarchiv der Bibliothek.
Das Innovative Kulturzentrum (IKZ) / Инновационный культурный центр (ИКЦ) wurde 2016 in Perwouralsk auf dem Gelände des früheren „Demidow“-Eisenwerks gegründet. Seit seiner Gründung arbeitet das IKZ mit NGOs und Vereinigungen von Menschen mit Behinderung, mit dem Ministerium für Sozialpolitik der Region Swerdlowsk und mit Freiwilligenorganisationen zusammen. Es gründete die Freiwilligenorganisation „IKZ-Freundesliga", die auch Menschen mit Behinderung einschließt. Für Menschen mit Seh- und Hörbehinderungen ist das Zentrum barrierefrei und bietet Arbeitsplätze. Das junge Team hat sich zum Ziel gesetzt, das Zentrum vollständig inklusiv zu gestalten, und arbeitet aktiv daran, Erfahrungen mit der Durchführung inklusiver Veranstaltungen zu sammeln.
Aus dem Fotoarchiv des IKZ.
Das Regionale Bernsteinmuseum Kaliningrad / Калининградский областной музей янтаря wurde 1979 eröffnet und ist eine der „Visitenkarten“ der Region. Die Einrichtung empfängt jährlich 200.000 Besucher:innen, weshalb es vor der wichtigen Aufgabe steht, ein universell zugängliches Umfeld zu schaffen. So erlaubt es das besondere Projekt „Museum im magischen Buch", dreidimensionale virtuelle Kopien von 30 einzigartigen Ausstellungsstücken in Ausstellungen und Präsentationen zu zeigen, die sich an weiter entfernten Orten befinden, darunter Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen für Kinder.
Das Regionale Bernsteinmuseum Kaliningrad. Aus dem Fotoarchiv des Museums.
Das Stadtmuseum „Omsker Kunst“ / Городской музей «Искусство Омска ist eines der jüngsten und mobilsten Museen der Stadt Omsk. Aktiv entwickelt es alle Bereiche der Museumswesens und führt auch Ausstellungs-, Forschungs-, Aufklärungs- und Publikationstätigkeiten aus. Das Museum ist bereit, neue Arbeitsformen einzuführen und verfügt bereits über gewisse Arbeitserfahrung mit Menschen mit Behinderung, sowohl als Autor:innen als auch Besucher:innen der Museumsausstellungen.
Das Stadtmuseum "Omsker Kunst". Aus dem Fotoarchiv des Museums.
Am 22. Dezember 2020 fand im Anschluss an die Weiterbildungsseminare in der Ukraine der Multi-Stakeholder-Dialogue “ Inklusion. Kultur. Öffentlichkeit” in Form eines Runden Tisches statt. Die Veranstaltung wurde vom DRA zusammen mit der Partnerorganisation „Unbeaten Path“ aus Lwiw vorbereitet und durchgeführt.
Das Ziel des Runden Tisches lag in der Vernetzung unterschiedlichster Stakeholder und Kulturschaffender mit und ohne Behinderung aus der Region Lwiw. Gemeinsam sollten sie die aktuelle Situation zu Teilhabe von Menschen mit Behinderung an Kunst und Kultur besprechen und Strategien entwickeln, wie für Menschen mit Behinderung ein Raum zur aktiven Mitwirkung im Bereich Kunst und Kultur eröffnet werden kann.
In Ramen des Runden Tisches wurden folgende Themen besprochen:
In diesem Panel besprachen Expert:innen unter anderem wie groß die Nachfrage nach Kunstangeboten, die von Menschen mit Behinderung gestaltet wurden, ist und wie sich deren soziale Unsicherheit auf ihre Kreativität auswirkt.
Um den Teilnehmenden das in der Ukraine noch relativ neue Thema von kultureller Inklusion näher zu bringen, wurde die künstlerische Leiterin und Produzentin des EU Creative Europe Projektes Un-Label Lisette Reuter eingeladen. Sie berichtete über die künstlerischen Möglichkeiten von inklusiven, spartenübergreifenden Bühnenarbeiten, die sie als inklusive Projekte realisiert hatte.
In diesem Panel diskutierten Medienvertreter:innen und Kulturschaffende über die Selbstwahrnehmung von Menschen mit Behinderung und deren Darstellung und Präsenz in ukrainischen Medien.
Der Runde Tisch stieß in Lwiw auf große Resonanz aus, was nicht zuletzt durch die informationelle und organisatorische Unterstützung der Kulturabteilung des Stadtrats Lwiw zurückzuführen ist. Außerdem ist Lwiw ein Ort mit weitreichendem und vielfältigem Potenzial unterschiedlichster Kultur – und Kunstschaffender.
Alle Interessierten haben die Möglichkeit, die Aufnahme der Live-Übertragung jederzeit auf dem INKuLtur YouTube-Kanal anzusehen.
Der Runden Tisch wurde im Rahmen des trilateralen DRA-Programms „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ organisiert, welches in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen aus Russland, der Ukraine und Deutschland umgesetzt und aus Mitteln der Europäischen Union und des Auswärtigen Amtes gefördert wird.
Am 10. Dezember um 15 Uhr fand im Rahmen der Ausstellung eine Podiumsdiskussion zum Thema: „Inklusion? Grenzen? Los! Wirksamkeit der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland und im postsowjetischen Raum“ statt.
Zusammen mit dem Publikum und Gästen aus Deutschland und aus dem postsowjetischen Raum wurden u.a. folgende Fragen diskutiert:
· Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf die Rechte von Menschen mit Behinderung aus?
· Wie sind die Selbstvertretungsorganisationen in wichtige politische Entscheidungsprozesse zur Corona-Pandemie einbezogen?
Die Diskussion fand hybrid in Berlin und Kiew in deutscher, russischer und ukrainischer Lautsprache statt und wurde simultan in diese drei Sprachen sowie in die Gebärdensprache gedolmetscht.
Die Ausstellung und Podiumsdiskussion wurden vom DRA e.V. und dem ABiD-Institut Behinderung & Partizipation im Rahmen des Programms „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ veranstaltet. Dieses wird in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen aus der Ukraine und Deutschland umgesetzt und aus Mitteln des Auswärtigen Amtes gefördert.
Der Runde Tisch zur Realisierung einer barrierefreien Öffentlichkeit am 19. November in Charkiw war als eine Vernetzungsmaßnahme und Austauschplattform konzipiert. Laut der 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention sind alle Vertragsstaaten verpflichtet, eine nationale Strategie zur Inklusion bis 2030 zu entwickeln und umzusetzen.In der Ukraine wurde eine solche Strategie 2020 erarbeitet und vom Präsidenten unterzeichnet.
Zum Runden Tisch waren Stakeholder staatlicher Behörden in Charkiw und Kiew eingeladen. Sie debattierten über die praktische Umsetzung der Strategie, z.B. die physische Erreichbarkeit von Museen und Theatern und erarbeiteten eine Liste konkreter Vorschläge und Maßnahmen.
Der Runde Tisch zur Realisierung einer barrierefreien Öffentlichkeit am 19. November in Charkiw war als eine Vernetzungsmaßnahme und Austauschplattform konzipiert. Laut der 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention sind alle Vertragsstaaten verpflichtet, eine nationale Strategie zur Inklusion bis 2030 zu entwickeln und umzusetzen.In der Ukraine wurde eine solche Strategie 2020 erarbeitet und vom Präsidenten unterzeichnet.
Zum Runden Tisch waren Stakeholder staatlicher Behörden in Charkiw und Kiew eingeladen. Sie debattierten über die praktische Umsetzung der Strategie, z.B. die physische Erreichbarkeit von Museen und Theatern und erarbeiteten eine Liste konkreter Vorschläge und Maßnahmen.
Der Runde Tisch zur Realisierung einer barrierefreien Öffentlichkeit am 19. November in Charkiw war als eine Vernetzungsmaßnahme und Austauschplattform konzipiert. Laut der 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention sind alle Vertragsstaaten verpflichtet, eine nationale Strategie zur Inklusion bis 2030 zu entwickeln und umzusetzen.In der Ukraine wurde eine solche Strategie 2020 erarbeitet und vom Präsidenten unterzeichnet.
Zum Runden Tisch waren Stakeholder staatlicher Behörden in Charkiw und Kiew eingeladen. Sie debattierten über die praktische Umsetzung der Strategie, z.B. die physische Erreichbarkeit von Museen und Theatern und erarbeiteten eine Liste konkreter Vorschläge und Maßnahmen.
Der Runde Tisch zur Realisierung einer barrierefreien Öffentlichkeit am 19. November in Charkiw war als eine Vernetzungsmaßnahme und Austauschplattform konzipiert. Laut der 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention sind alle Vertragsstaaten verpflichtet, eine nationale Strategie zur Inklusion bis 2030 zu entwickeln und umzusetzen.In der Ukraine wurde eine solche Strategie 2020 erarbeitet und vom Präsidenten unterzeichnet.
Zum Runden Tisch waren Stakeholder staatlicher Behörden in Charkiw und Kiew eingeladen. Sie debattierten über die praktische Umsetzung der Strategie, z.B. die physische Erreichbarkeit von Museen und Theatern und erarbeiteten eine Liste konkreter Vorschläge und Maßnahmen.
Der Runde Tisch zur Realisierung einer barrierefreien Öffentlichkeit am 19. November in Charkiw war als eine Vernetzungsmaßnahme und Austauschplattform konzipiert. Laut der 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention sind alle Vertragsstaaten verpflichtet, eine nationale Strategie zur Inklusion bis 2030 zu entwickeln und umzusetzen.In der Ukraine wurde eine solche Strategie 2020 erarbeitet und vom Präsidenten unterzeichnet.
Zum Runden Tisch waren Stakeholder staatlicher Behörden in Charkiw und Kiew eingeladen. Sie debattierten über die praktische Umsetzung der Strategie, z.B. die physische Erreichbarkeit von Museen und Theatern und erarbeiteten eine Liste konkreter Vorschläge und Maßnahmen.
Der Runde Tisch zur Realisierung einer barrierefreien Öffentlichkeit am 19. November in Charkiw war als eine Vernetzungsmaßnahme und Austauschplattform konzipiert. Laut der 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention sind alle Vertragsstaaten verpflichtet, eine nationale Strategie zur Inklusion bis 2030 zu entwickeln und umzusetzen.In der Ukraine wurde eine solche Strategie 2020 erarbeitet und vom Präsidenten unterzeichnet.
Zum Runden Tisch waren Stakeholder staatlicher Behörden in Charkiw und Kiew eingeladen. Sie debattierten über die praktische Umsetzung der Strategie, z.B. die physische Erreichbarkeit von Museen und Theatern und erarbeiteten eine Liste konkreter Vorschläge und Maßnahmen.
Im Rahmen des Programms „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ wird derzeit die erste internationale Wanderausstellung über das Leben von Menschen mit Behinderungen zwischen 1945 und 2020 entwickelt. Die Autor:innen des Projektes möchten Biografien von behinderten Menschen aus drei Ländern – Russland, der Ukraine und Deutschland – sammeln und erforschen. Im Zentrum steht die Frage, wie Menschen mit Behinderungen in Zeiten grundlegender Veränderungen lebten, was sie empfanden und wie ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben aussah. So soll die langjährige Entwicklung von Inklusion auf globaler Ebene dargestellt und die Geschichte der drei Länder aus der Sicht einer besonderen Bevölkerungsgruppe aufgezeigt werden. Kurator:innen der Ausstellung „Überzeugen – die Geschichten von Menschen mit Behinderung“ sind der Gehörlosenpädagoge und Leiter verschiedener Programme zur Inklusion, Vlad Kolesnikov, sowie die Kulturwissenschaftlerin Maria Sarycheva. Mit ihr sprachen wir über den Umfang der laufenden Forschung, deren Aufgaben und erste Ergebnisse.
INKuLtur: Wie lange wird die Entwicklung der Ausstellung voraussichtlich dauern? Können Sie uns etwas über die einzelnen Arbeitsphasen berichten?
Maria Sarycheva: Wir arbeiten seit August 2020 an der Ausstellung. Die Eröffnung ist im 2021 geplant, sofern die Pandemiebedingungen dies zulassen. Ich kam zu diesem Projekt auf Einladung meines Freundes und Mitstreiters Vlad Kolesnikov, mit dem ich schon lange Programme für gehörlose Menschen in verschiedenen Städten und Museen Russlands entwickle. Es war mir wirklich wichtig, sein Angebot anzunehmen und gemeinsam mit ihm an diesem Projekt zu arbeiten. Zunächst einmal kamen wir zu der Erkenntnis, dass es seit 1945 bis heute Unmengen von Geschichten von Menschen mit Behinderungen gibt, die zwar Auswirkungen auf viele Schicksale hatten, aber dennoch nie erzählt wurden. Daraus kristallisierte sich unsere Aufgabe heraus: Wir wollen die schrittweise Veränderung und die parallele Existenz unterschiedlicher Wahrnehmungen von Behinderungen in diesen Ländern darstellen und Geschichten zeigen, die bisher unsichtbar blieben. Dabei ist uns die Sicht der Menschen mit Behinderung selbst wichtig, die Zeitzeugen, passive Beobachter oder aber aktive Mitgestalter von historischen Prozessen sind.
Da wir gleichzeitig in verschiedenen geografischen Kontexten arbeiten, haben wir uns an Politikwissenschaftler gewandt, die uns die jeweiligen geschichtlichen Prozesse in den einzelnen Ländern seit 1945 chronologisch darstellten. Dann haben wir uns mit mehreren Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen in den einzelnen Ländern getroffen, die selbst verschiedene Behinderungen haben, um mit ihnen diese Chronologie zu besprechen und die Sichtweisen von Politologen ohne Behinderung um die unmittelbaren Erfahrungen von Zeitzeug:innen mit Behinderung zu ergänzen. Nun gehen wir zum nächsten Schritt über. In Russland beispielsweise gibt es Wissenschaftler:innen, die zu den Erfahrungen und Geschichten konkreter Personen und Institutionen forschen, die sich mit Fragen von Behinderung in der Sowjetunion und im heutigen Russland befassen. Zudem suchen wir indirekte Unterstützer:innen, die Geschichten sammeln und Tiefeninterviews mit noch lebenden Zeitzeug:innen führen können. Damit wollen wir einen umfangreichen Korpus an verbalen und nonverbalen Daten über die Schicksale von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen aufbauen und diese in konkrete historische Prozesse einbetten. Analoge Datensammlungen sind auch in Deutschland und der Ukraine angelaufen.
INKuLtur: Welche Ressourcen nutzen Sie, und wie viele Mitarbeiter:innen haben Sie?
Maria Sarycheva: Mit Sicherheit kann ich sagen, dass mehr als 20 Personen an der Entwicklung der Ausstellung beteiligt sind. Wir arbeiten mit Fachleuten aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammen; dazu gehören externe Expert:innen, Wissenschaftler:innen, Journalist:innen und eine beträchtliche Zahl an Gebärdensprachdolmetscher:innen.
INKuLtur: Warum interessieren Sie sich gerade für dieses Thema, warum ist es Ihnen wichtig?
Maria Sarycheva: Mein Interesse am Thema Behinderung in Russland hängt mit meiner Arbeit zusammen: Ich bin Spezialistin für Barrierefreiheit in der Tretjakow-Galerie. Darüber hinaus hat mich die Historie des Themas Behinderung als akademisches Forschungsfeld, das es als solches in Russland noch gar nicht gibt, schon immer interessiert. Ganz banal ausgedrückt: Ohne Kenntnis der Vergangenheit werden wir uns nicht vorwärtsbewegen können. Genau aus diesem Grund habe ich vor ungefähr 5-6 Jahren angefangen, mich mit diesem Thema zu beschäftigen. Seitdem weiß ich genau, dass es keine fertigen Lösungen oder Antworten auf ewige Fragen gibt. Das ist ein ziemlich spannender Prozess und gleichzeitig auch immer eine Gemeinschaftsaufgabe. Es gibt viele Fragen, und nur Wenige haben Antworten darauf. Diese Ausstellung soll dabei helfen, Antworten zu finden, Verständnis und Akzeptanz zu fördern und gleichzeitig eine Möglichkeit sein, das Potenzial für Veränderungen auszuloten.
INKuLtur: Worin besteht für Sie die Mission dieser Forschungsarbeit?
Maria Sarycheva: Bei uns gibt es die disability studies oder disability history nicht als etablierten Wissenschaftszweig, und ich habe den Eindruck, dass unsere Forschungsarbeit den Wissensbereich Behinderung in den Rang einer akademischen Disziplin heben könnte. Nicht zuletzt vermittelt sie einem breiten Publikum mehr Kenntnis zu diesem Thema und gibt Menschen mit Behinderung die Möglichkeit, Hintergründe zu erfahren, die eigenen Rechte zu schätzen und sich für die Rechte einzusetzen, die ihnen zustehen. Die Ausstellung richtet sich an verschiedene Besucher:innengruppen. Vlad und ich verstehen Behinderung als gesellschaftliches Konstrukt, so wie es in der UN-Behindertenrechtskonvention verankert ist. Gemäß dieser Konvention werden Behinderungen durch Wechselwirkungen zwischen den Menschen geschaffen und reproduziert. Und wenn Menschen ohne Beeinträchtigungen die Anzahl von Barrieren verringern können, die sie – bewusst oder unbewusst – für Menschen mit Behinderung in Kultur-, Kunst- und Bildungseinrichtungen errichtet haben, dann hat unsere Untersuchung aus meiner Sicht ihren Zweck erfüllt.
INKuLtur: Welche Geschichten legen Sie den Besucher:innen besonders ans Herz? Gibt es irgendwelche Enthüllungen?
Maria Sarycheva: Ich denke, dass jedes Schicksal besondere Aufmerksamkeit verdient und jede Geschichte in die Ausstellung aufgenommen werden kann und sollte. Was Enthüllungen angeht: In diesem Prozess wird letztlich jede Geschichte bloßgelegt, auch wenn manche von ihnen vielleicht banal erscheinen. Bei der Arbeit an der Ausstellung ist es vor allem wichtig, Dinge ans Licht zu holen und alternative Sichtweisen auf bereits Bekanntes zu ermöglichen. Zu Beginn des Projektes hatten Vlad und ich eine Liste von Personen, deren Biografien sich hervorragend in unserem Kontext verarbeiten lassen würden, zum Beispiel das Leben und Schaffen von dem sowjetischen
Bildhauer Vadim Sidur, der selbst aufgrund einer Kriegsverletzung
behindert war. Ein weiteres Beispiel ist das Experiment des Kinderheimes von Sagorsk, in dessen Rahmen Wissenschaftler der Fakultät für Psychologie der Moskauer Staatlichen Universität vier vollständig taubblinde Kinder unterrichteten. Es gibt viele solcher Beispiele. Wir suchen auch gezielt nach Geschichten von behinderten Frauen oder von Behinderten, die einander sehr nahestanden. Wenn wir zum Beispiel von der taubblinden Schriftstellerin Helen Keller sprechen, dann geht das nicht, ohne gleichzeitig Anne Sullivan zu erwähnen, die sie ein Leben lang begleitet hat. Ich könnte noch viele weitere und nicht weniger spannende Geschichten nennen.
INKuLtur: Was waren die wichtigsten Erkenntnisse für Sie persönlich, was hat Sie vielleicht auch überrascht oder besonders berührt?
Maria Sarycheva: Wir stehen ja noch ganz am Anfang unserer Arbeit. Eine unserer bisher wichtigsten Erkenntnisse ist, dass es bei Behinderungen nach wie vor Hierarchien und sogar eine Art Wettstreit unter Menschen mit Behinderung gibt. Wir haben einige Zeit gebraucht, um zu begreifen, wer es in der Sowjetunion besser hatte – Blinde oder Gehörlose. Mir macht die Tatsache zu schaffen, dass Möglichkeiten zur gegenseitigen Unterstützung oft nicht genutzt wurden, während gleichzeitig Solidarität in ganz anderen Bereichen geübt wurde. Das hat mich bekümmert und erstaunt. Auf der anderen Seite hat mich gefreut und auch überrascht, dass die Realität gar nicht so schrecklich war, wie wir vielleicht heute denken. Die Sowjetunion stellte Menschen mit Behinderung eine umfangreiche Infrastruktur bereit. Vlad und ich gehören zur postsowjetischen Generation, wir bekamen vor allem zu sehen, wie verschiedene Strukturen zerstört wurden. Doch bis zum Zerfall der Sowjetunion funktionierten viele Strukturen hervorragend.
INKuLtur: Was für ein Feedback haben Sie bislang erhalten?
Maria Sarycheva: Bisher gab es nur Arbeitstreffen zur Entwicklung der Ausstellung und zum Sammeln von Inhalten; ich weiß noch nicht, wie die Besucher:innen reagieren werden. Viele der Teilnehmenden an unserem Treffen im Oktober fanden, dass es eine Art besonderer Geschichtsstunde war, die sich sehr stark auf die eigenen Lebenserfahrungen bezog. Wenn man sich selbst in ein historisches Narrativ einzuordnen versteht und begreift, dass die eigene Geschichte ein Teil kollektiver Erfahrungen ist, die sich nicht in Nachrichtenportalen oder Lehrbüchern abspielt, sondern im Hier und Jetzt, dann ist das von großem Wert.
INKuLtur: Das Thema Behinderung ist umfassend, beinahe unerschöpflich. Haben Sie schon darüber nachgedacht, was Sie mit all dem gesammelten Material tun wollen?
Maria Sarycheva: Ja, das stimmt, manchmal ist es schwer, sich ganz allein an dieses Material heranzuwagen, man bekommt das Gefühl, diesem Thema nicht gewachsen zu sein, vor allem, wenn man selbst keine Behinderung hat. Aber trotzdem geht es voran. Wir haben die Idee, dass wir, sobald die Ausstellung erst einmal in verschiedenen Städten gezeigt wird, mit ihrer Hilfe noch weitere Geschichten sammeln können. Wir würden uns wünschen, dass die Ausstellung ständig weiterwächst, dass Geschichten aus jedem Ort, an dem sie gezeigt wird, dazukommen. Wir möchten sozusagen beim Sammeln von Geschichten einen Schneeballeffekt erzielen. Vielleicht werden wir die auf diese Weise zusammengetragenen Geschichten erst noch bearbeiten müssen und dafür Wissenschaftler:innen in diesen Prozess einbeziehen. Möglichkeiten gibt es viele.
INKuLtur: Ähnelte denn das Leben von Menschen mit Behinderung früher demjenigen von heute? Was ist ähnlich, wo sind Unterschiede?
Maria Sarycheva: Da ich in diesem Prozess eher die Rolle einer Beobachterin einnehme, bezieht sich meine Erfahrung hauptsächlich auf Menschen verschiedener Generationen. Zwischen ihnen sehe ich keine nennenswerten Unterschiede, Probleme gab es damals wie heute. Was sich allerdings unterscheidet, sind die Herangehensweisen an solche Probleme. Ich denke, das liegt daran, dass Menschen mit Behinderung heute verstärkt selbst für ihre Rechte eintreten, ihre eigenen Bedürfnisse und Belange klar zum Ausdruck bringen. Menschen ohne Beeinträchtigungen wiederum begegnen Behinderten immer weniger mit ausschließlich Mitleid oder als Wohltäter. Die Geschichte jedes Einzelnen ist einzigartig, Unterschiede zwischen Geschlechtern oder Generationen spielen nur eine untergeordnete Rolle. Viele unterschiedliche Sichtweisen haben dennoch gewisse Schnittmengen, viele Menschen leben mit ihnen. Und dort, wo sie sich überschneiden, gibt es Entwicklungsmöglichkeiten. Nach dem Arbeitstreffen zur Entwicklung der Ausstellung hatte ich ein wenig den Eindruck, dass die Menschen der verloren gegangenen Infrastruktur der Sowjetunion nachtrauern. Seinerzeit waren Menschen mit Behinderung zwar von der Gesellschaft isoliert, konnten aber trotzdem ein Leben in Würde führen. Die sowjetische Infrastruktur der Allrussischen Gesellschaft der Blinden sowie der Allrussischen Gesellschaft der Gehörlosen ermöglichte es Menschen mit Behinderung, sich in allen Lebensbereichen zu entwickeln. Ich habe den Eindruck, dass alles, was jetzt passiert, erst der Beginn tiefgreifender Umwälzungen ist. Während wir diese Geschichten zusammentragen, werden wir Zeugen grundlegender struktureller Veränderungen, denn die Konvention wurde in Russland erst 2012 vollständig ratifiziert, und wir haben das Gefühl, dass wir noch ganz am Anfang stehen.
Die Ausstellung „Überzeugen – die Geschichten von Menschen mit Behinderung von 1945 bis 2020“ wird im 2021 fertiggestellt sein und zeitgleich in verschiedenen Städten Russlands, Deutschlands und der Ukraine gezeigt werden.
Die Ausstellung wird im Rahmen des Programms „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ entwickelt. Das Programm wird vom DRA – Deutsch-Russischer Austausch e.V. gemeinsam mit Partnern aus Deutschland, Russland und der Ukraine und mithilfe der finanziellen Unterstützung der Europäischen Union in Russland und des Auswärtigen Amtes umgesetzt.
Die im Interview zum Ausdruck gebrachten Ansichten spiegeln nicht unbedingt die der Europäischen Union oder des Auswärtigen Amtes wider.
Am 2. Dezember 2021 fand in der Galerie CLB Berlin die Eröffnung der inklusiven Ausstellung „überZEUGEN: Geschichten von Menschen mit Behinderung“ statt. Diese Ausstellung ist Teil des DRA-Programms „INKultur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“.
Das Ziel der Ausstellung „überZEUGEN: Geschichten von Menschen mit Behinderung“ war, die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung in den letzten 70 Jahren anhand persönlicher Biografien zu ergründen. Ausgangspunkt war die Frage nach dem Wert des Lebens und der Menschenwürde sowie eine historische Analyse des Verständnisses von „Behinderung“, „Fürsorge“ und „Partizipation“ aus der Perspektive dieser Menschen.
“überZEUGEN” veranschaulichte ihre vergangenen und gegenwärtigen Hürden und Herausforderungen im alltäglichen Leben. Neben der Reflexion über die historische Vergangenheit der Thematik Behinderung stellten wir die Frage, welche Bedeutung die Vergangenheit für die aktuelle Generation und die Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderung haben kann.
Persönliche Erfahrungen von 40 Zeitzeug:innen mit Behinderung
Methodisch arbeitete die Ausstellung mit narrativen Interviews und persönlichen Artefakten. Insgesamt wurden 40 Zeitzeug:innen mit Behinderung aus Deutschland, Russland und der Ukraine befragt. Sie erzählten von individuellen Erlebnissen, dem Prozess der Identitätsfindung und der Selbstreflexion.
Darüber hinaus teilten die Zeitzeug:innen ihre vielfältigen persönlichen Erzählungen über große historische Ereignisse, z.B. den Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung, die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl und aktuell die Corona-Pandemie. Diverse persönliche Gegenstände der Protagonist:innen wurden in drei Themenbereiche unterteilt: das private Leben, das soziale Leben und den öffentlichen Raum.
Das private Leben
Hier geben die Protagonist:innen einen Einblick in ihr privates Leben von der frühen Kindheit bis zum Erwachsenenalter. Selbstreflektiert erzählen sie über Familie, Freundschaften und Partnerschaften, über verschiedene Lebensrealitäten und - Qualitäten sowie deren Wandel von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit.
Menschenwürdige Fürsorge ist nur dann möglich, wenn sie die individuellen Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt, in öffentlichen Räumen wie Schule, Universität oder Arbeit mitgedacht und nicht fremdbestimmt wird.
Die Interviews mit den Protagonist:innen zeigten jedoch, dass die Identität von Menschen mit Behinderung sich häufig aus der Anpassung an die Erwartungen der nichtbehinderten Gesellschaft und in unwürdigen Verhältnissen entwickelte. Unsere Ausstellung aber zeigte, dass ein Leben mit Behinderung kein Leiden oder Grund sein muss, mit dem Leben unzufrieden zu sein.
Das soziale Leben
Politischer Aktivismus von Menschen mit Behinderung hat in den letzten Jahrzehnten viel dazu beigetragen, dass Inklusion und Rechte von Menschen mit Behinderung als gesetzliche und politische Ziele auf der Tagesordnung stehen. Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, Russland und in der Ukraine ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu ihrer Selbstbestimmung.
In diesem Bereich erzählten die Protagonist:innen über ihr behindertenpolitisches Engagement. In den persönlichen Geschichten fand man viele Gemeinsamkeiten in den nationalen Behindertenbewegungen und den individuellen Erfahrungen der Protagonist:innen aus Deutschland, Russland und der Ukraine. Akteur:innen der Behindertenbewegung fordern echte Inklusion als Verpflichtung die Würde der Menschen zu wahren. Sie sollte ständiges Thema der Zivilgesellschaft und die Anerkennung ihrer Bewegung sein.
Die einzelnen Geschichten der Protagonist:innen sind in dieser Zeitung nachzulesen.
Der öffentliche Raum
Das Leben von Menschen mit Behinderung als Zeitzeug:innen der Weltgeschichte ist im allgemeinen Diskurs unter- beziehungsweise gar nicht repräsentiert. Im dritten Bereich der Ausstellung berichteten Protagonist:innen über ihre persönlichen Eindrücke und ihr Erleben von bedeutenden historischen Ereignissen - ab dem Zeitpunkt des Überfalls auf die Sowjetunion durch Nazi-Deutschland im Jahr 1941 bis zur weltweiten Corona-Krise.
Die Erzählungen zeigten, wie sich ableistische Zuschreibungen und Ausgrenzungen kontinuierlich fortgesetzt haben. Isolation von der Mehrheitsgesellschaft und die Unmöglichkeit sich an wichtigen gesellschaftlichen und politischen Prozessen aktiv zu beteiligen, gehörte und gehört noch immer zum Alltag vieler Protagonist:innen.
Einen sehr persönlichen und sensiblen Einblick in die Innenperspektive von Menschen mit Behinderung gibt unser Protagonist Ihor Sintschuk in seinem Essay, der im Ganzen nachzulesen ist.
„Haben Sie sich je darüber Gedanken gemacht, dass für einige Ihrer Mitmenschen der Lockdown und die Isolation in den eigenen vier Wänden ihr ganzes Leben lang dauern? Diese Menschen werden in der Ukraine für gewöhnlich "Menschen mit besonderen Bedürfnissen" oder "Menschen mit Invalidität" genannt. Als ob sie sich etwas anderes wünschen würden als diejenigen, die zum Glück ohne "besondere Bedürfnisse" leben. Wir wünschen uns doch alle Liebe, Respekt, Selbstverwirklichung, Erfolg und Wachstum in all seinen Bedeutungen: im Privatleben, im Beruf und im Schaffen.“
Während der Eröffnung am 2. Dezember in Berlin kamen einige Protagonist:nnen zusammen und sprachen mit dem Publikum über ihre Geschichten, die in der Ausstellung präsentiert wurden.
Im Oktober und November 2021 wurde unsere inklusive Wanderausstellung „überZEUGEN: Geschichten von Menschen mit Behinderung“ in vier Städten in der Ukraine gezeigt - in Lwiw, Slowjansk, Charkiw und Kiew und rief ein großes öffentliches und mediales Interesse hervor. Sie wurde im Rahmen des Projekts „INKultur – Inklusion und kulturelle Teilhabe stärken“ konzipiert und umgesetzt. Ziel von „überZEUGEN“ war es, persönliche Erfahrungen von Menschen mit Behinderung in den letzten 70 Jahren anhand persönlicher Biografien sichtbar zu machen.
Die Ausstellung basierte auf Interviews mit Zeitzeug:innen mit Behinderungen. Einige von ihnen haben Sehbehinderungen, andere geistige Behinderungen oder sitzen im Rollstuhl. Während der Eröffnungen wurden persönliche Begegnungen und Gespräche mit ihnen möglich. Weiterhin waren Installationen und "Artefakte" ausgestellt, also persönliche Gegenständen der Zeitzeug:innen, die für sie selbst das Thema Inklusion und ihre eigenen Erlebnisse im Prozess persönlicher und gesellschaftlicher Veränderungen symbolisierten. Einige Exponate waren als taktile Modelle für Menschen mit Sehbehinderung ausgestellt.
Die Hauptelemente der Ausstellung wurden in Brailleschrift und Leichter Sprache dargestellt.
„überZEUGEN“ war Teil des internationalen Programms „INKuLtur – für Inklusion in der Kultur“, das in Partnerschaft mit der Step by Step Charitable Foundation, der Greenhouse Initiative Platform, dem Untrodden Path Art and Therapy Center, der deutschen Organisation ABiD-Institut Behinderung & Partizipation sowie mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amtes umsetzt wurde. Ein Interview mit der Projektkoordinatorin Nataliia Zvyagintseva können sie hier nachhören.
Es kursiert die Behauptung, dass die Geschichten von Menschen mit Behinderung nur sehr wenig mit den Geschichten von Menschen ohne Behinderung zu tun haben – nur während Ausnahmesituationen, wie Kriegen oder internationalen Krisen werden die Gemeinsamkeiten ihrer Leben sichtbar.
Wo waren Menschen mit Behinderung, als der zweite Weltkrieg ausgebrochen ist? Wie erlebten Menschen mit Behinderung den Zusammenbruch der Sowjetunion? Wie fühlten sie sich in Momenten der globalen Veränderungen? Genau diese und ähnliche spannende Fragen wurden im Rahmen des Arbeitstreffens für die Entwicklung der multimedialen Wanderausstellung „Überzeugen – die Geschichten von Menschen mit Behinderung“, das vom 22 bis 24 Oktober 2020 in Sankt Petersburg stattfand, diskutiert.
An dem Treffen nahmen etablierte Inklusionsexpert:innen teil, darunter der Petersburger Journalist Yurii Kuznetsov; Sergei Vanschin, Generaldirektor der Allrussischen Gesellschaft der Blinden "Reakomp"; Viktor Palennyi, Experte für Geschichte und Kultur von Gehörlosen in Russland; Tatiana Redina, Expertin für schulische Inklusion; Alexander Ivanov, Leiter des Kunststudios der St. Petersburger Wohltätigkeitsorganisation „Perspektivy”; Vera Simakova, Leiterin der Partnerorganisation „Blagoe delo“; sowie Maria Sarycheva und Vlad Kolesnikov – die Kuratoren der Ausstellung.
„In einer freundlichen und professionellen Atmosphäre wurden viele guten Ideen entwickelt, die mich schon viele Jahre beschäftigen. Wir erlebten ein sehr produktives Brainstorming, in welchem wir bereits die Konturen der zukünftigen Ausstellung zeichnen konnten. So vor allem, wie wir die persönlichen Lebensgeschichten von Menschen mit Behinderungen in der Ausstellung verarbeiten können. Wir haben uns viele persönliche Geschichten der möglichen Protagonist:innen aus der Vergangenheit und Gegenwart durch den Kopf gehen lassen, die sich aktiv für Menschen mit Behinderungen eingesetzt haben”, so Tatiana Redina.
„Überzeugen – die Geschichten von Menschen mit Behinderung“ ist eine multimediale Wanderausstellung, die eine aufwendige Recherche zu Lebensgeschichten von Menschen mit Behinderung in der Ukraine, Russland und Deutschland kreativ verarbeitet.
Die Wanderausstellung wird im Rahmen des DRA-Programms „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ entwickelt. Das Programm wird in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen aus Russland, der Ukraine und Deutschland umgesetzt und aus Mitteln der Europäischen Union und des Auswärtigen Amtes gefördert.
Am 18. Juni 2020 fand im Rahmen des DRA-Programms „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“ eine Online-Diskussion zum Thema “75 Jahre Kriegsende - 75 Jahre Behindertenrechte?? Die Entwicklung der Rechte von Menschen mit Behinderung in Deutschland, Russland und der Ukraine” statt.
Zusammen mit Expert:innen aus Deutschland, Russland und der Ukraine wurden sowohl der Status quo der Behindertenrechte als auch die historischen Entwicklungen besprochen. Dadurch wurde ein Rückblick auf die letzten 75 Jahre geworfen und der Frage nachgegangen, wie sich die Sicht auf Behinderung in der Gesellschaft seit dem Ende des 2. Weltkrieges veränderte.
Die Veranstaltung begann mit einer Begrüßung durch die Programmleiterin Irina Bukharkina und einem Eingangsstatement des Moderators Constantin Grosch.
„Wenn heute Behinderte und ihre Verbände in Russland, der Ukraine und Deutschland mehr Rechte fordern, geht es seltener um die nackte Existenz, als vielmehr um das Einfordern von gleichen Rechten, Selbstbestimmung und Hilfen zur gesellschaftlichen Teilhabe. So schleichend die Erinnerung und das Gedenken an die finstersten Zeiten Europas verblassen, so beständig nimmt die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen zu“ (Zitat von Constantin Grosch).
Phillip Rauh, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich für Medizingeschichte am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Technischen Universität München, fing mit einer kurzen Einführung zur Lage von Menschen mit Behinderung am Anfang des 20. Jahrhunderts an. Dabei betonte Herr Rauh, dass im Ersten Weltkrieg 70 Tsd. Patient:innen von Behinderteneinrichtungen und psychiatrischen Einrichtung an den Folgen von durch Hunger verursachten Erkrankungen starben, „also Tausende Leute mehr als die normale Sterblichkeit in den Jahren davor und danach“, so Rauh. Aus dieser Entwicklung entstanden die ersten ganz konkreten Diskussionen um die Freigabe der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in den beginnenden 1920-er Jahren in Deutschland.
Anschließend berichtete Tatiana Dorokhova, Dozentin für Sozialpädagogik an der Staatlichen Pädagogischen Universität Ural aus Russland, über die Situation von Menschen mit Behinderung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in der gegründeten Sowjetunion, vor allem aber in der Russischen Sowjetrepublik. Die Schwierigkeiten, mit denen Menschen mit Behinderung damals konfrontiert waren, waren größtenteils durch sozio-ökonomische Faktoren bedingt. Auf der einen Seite entstanden in den 1920-er Jahren die ersten Gesellschaften von Menschen mit Behinderung, vor allem für Kriegsveteranen, was zur sozialen Sicherstellung und Vorzugsbeschäftigung beitragen sollte. Auf der anderen Seite gab es im Land aufgrund des Krieges nicht genügend Mittel um die marginalisierten Gruppen zu unterstützen.
Über ähnliche Erfahrungen von Menschen mit Behinderung in der sowjetischen Ukraine berichtete die ukrainische Expertin Juliia Sachuk, die sich aktiv mit dem Thema der Rechte von Menschen mit Behinderung beschäftigt. Allerdings wies Frau Sachuk darauf hin, dass sich die Perspektive auf Menschen mit Behinderung immer von der allgemeinen sowjetischen unterschied, da Entwicklungen in Europa den westlichen Teil der Ukraine schneller erreichten.
Des Weiteren diskutierten die Panelist:innen über die möglichen Änderungen, die das Ende des Krieges in den Alltag von Menschen mit Behinderung mit sich brachten. Der Zweite Weltkrieg verschlechterte die Lage von Menschen mit Behinderung in allen drei Ländern, dessen Auswirkungen sowohl in Deutschland als auch im postsowjetischen Raum immer noch nicht genug aufgearbeitet sind.
Die offizielle Politik der nationalsozialistischen Rassenhygiene, der "Euthanasie" und Zwangssterilisationen in Deutschland und in den besetzten Gebieten hat mit dem Ende Zweites Weltkrieges zwar geendet, dennoch wurden in der ersten Nachkriegsmonaten viele Bewohner:innen der Heil- und Pflegeanstalten und psychiatrischen Einrichtungen durch vorsätzliche Vernachlässigung, Hunger und Medikamente getötet. Die späteren Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Rechtfertigungsargumentation zu diesen Verbrechen hatte dramatische Auswirkungen auch für die Opfer der NS-Zwangssterilisierung, die in den Jahren 1933 bis zum Kriegsende auf Grundlage des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" erfolgte. Dabei betont Philipp Rauh: „dieses Gesetz wurde […] lange Zeit nicht als dezidiertes NSU-Rechtsgesetz angesehen, sondern […] wurde ab 1945 einmal nicht mehr angewandt und wurde auch nicht mehr zurückgenommen. Und bis in die 50-60er Jahre wurde argumentiert, dass das eben kein spezifisches NS-Gesetz war“.
In dieser Zeit gab es in der Sowjetunion, laut Tatiana Dorokhova, keine gezielte Politik gegen Menschen mit Behinderung, aber sie wurden unterschiedlich wahrgenommen. Einerseits gab es viele Veteran:innen, die durch den ersten und zweiten Weltkrieg Verletzungen erlitten haben. Diese Gruppe wurde heroisiert und wertgeschätzt. Andererseits gab es Menschen mit geistiger Behinderung und psychisch kranke Menschen, die öfters als „Narr in Christo“ (‚юродивый‘ auf Russisch) gesehen wurden.
Auch die sowjetische Ideologie spielte zu dieser Zeit eine große Rolle, und weil sie sich in erster Linie mit dem Klassenkampf beschäftigte, gab es für Menschen mit Behinderung keine zusätzliche Vernachlässigung. Doch war die Ressourcenknappheit ein dringendes Problem, so dass die Existenzgrundlage für viele Menschen erstmal schwierig war, auch für Menschen mit Behinderung.
Anschließend betonte Juliia Sachuk, dass die Lage von Menschen mit Behinderung in der Ukraine in den Nachkriegszeiten sehr schlecht aussah, teilweise auch, weil die Regierung mit der hohen Zahl an behinderten Veteran:innen nicht zurechtkam Es kam zu verschiedenen zwanghaften Manipulationen seitens der sowjetischen Regierung, um diese Zahl zu verhindern. Die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung erfolgte öfters aufgrund des starken Arbeitskräftemangels unter ungeeigneten Bedingungen. Gleichzeitig wurden vielen Menschen mit Behinderung zwangsläufig in spezialisierte Internate gesperrt: offiziell – zur Behandlung, inoffiziell – zur "Räumung" der Bettler:innen aus den Straßen.
Aus heutiger Sicht hat sich die Situation für Menschen mit Behinderung substanziell geändert. Auch wenn in Russland, laut Frau Dorokhova, noch nicht alle dazu bereit sind, eine Person mit Behinderung als gleichwertig wahrzunehmen, gewinnen inklusive Prozesse, trotz Mangel an Rampen und Aufzügen, immer mehr an Bedeutung.
Dank der progressiven Behindertenrechtspolitik, die mit der Bewegung von Menschen mit Behinderung und mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention anfing, und dank der Aktivist:innen, die einen Beitrag dazu leisten, die nicht behinderte Öffentlichkeit für die Probleme von Menschen mit Behinderung zu sensibilisieren, können Menschen mit und ohne Behinderung einen gemeinsamen Dialog auf Augenhöhe führen und ihre Selbstbestimmung ernstnehmen.
Frau Sachuk, selbst eine Frau mit Sehbehinderung, beobachtet heute diese Wahrnehmungsänderung auch in der ukrainischen Gesellschaft.
„Es wurde ein Paradigmenwechsel vorangetrieben, weg von dem medizinischen pathologisierten Blick auf Behinderung hin zu der Sichtweise auf Behinderung als soziales Konstrukt. Und das ist gerade für die Forschung der Geschichte der Behinderung sehr fruchtbar“, so Philipp Rauh.
Organisiert wurde das Podiumsgespräch im Rahmen des trilateralen DRA-Programms „INKuLtur – für Inklusion und kulturelle Teilhabe“, das in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen aus Russland, der Ukraine und Deutschland umgesetzt und aus Mitteln der Europäischen Union und des Auswärtigen Amtes gefördert wird.
Die Veranstaltung wurde vom Auswärtigen Amt unterstützt und fand in Kooperation mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin statt.
Am 25.-29. Mai 2020 trafen sich sechs Expert:innen aus Russland, Deutschland und der Ukraine aus den Bereichen Geschichts- und Geisteswissenschaft, Inklusionsförderung und Ausstellungskonzeption für das erste Expert:innentreffen zur Erarbeitung eines Ausstellungkonzeptes, das vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie online stattfand.
Drei Tage lang haben die Expert:innen und das INKuLtur-Team intensiv an den Grundlagen des Ausstellungkonzeptes gearbeitet und wichtige Schritte für das weitere Vorgehen vereinbart.
Die Expert:innen aus der Ukraine – Yuliia Sachuk und Irina Tekuchova von der NGO Fight for Right (Kyiv, Ukraine) – warfen einen Blick auf die Rechts- und Sozialkontexte der Lage von Menschen mit Behinderung in der Ukraine in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Marianna Muravyova (Helsinki, Finnland) und Elena Yarskaya-Smirnova (Moskau, Russland) erzählten, wie sich die Situation mit Menschen mit Behinderung in Russland innerhalb letzten 70 Jahren entwickelte.
Petter Holm, Experte im Bereich der Inklusionsförderung und Sozialpädagogik (Bergen, Norwegen), stellte sein Konzept der Paradigmen (Segregation, Normalisierung, Integration, Inklusion) dar, die in verschiedenen Phasen der Entwicklung der Sozialpädagogik im 20. und frühen 21. Jahrhundert existierten. Diese Paradigmen sollen die Struktur der Ausstellung bestimmen.
Die Kuratorin vom Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst Julia Franke (Berlin, Deutschland) sprach über ihre Erfahrungen mit der Konzipierung von Ausstellungen und deren Zugänglichkeit. Dabei betonte sie, dass jegliche Ausstellung mit einem Universellen Design gestaltet werden sollte. Dadurch ist sie für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen zugänglich.
Des Weiteren wurde der kulturelle Kontext der Ausstellung mit Mikael Davtian (Sankt-Petersburg, Russland), Ausstellungskurator vom Russischen Staatlichen Museum in Sankt-Petersburg, besprochen.
Die Ausstellung „Faces of inclusion“ (Arbeitstitel) widmet sich der Lage der Menschen mit Behinderung, die unter Kriegsbedingungen und sozialer Abneigung gelebt hatten. Ein weiterer Hauptaspekt der Ausstellung ist die Auseinandersetzung mit dem Geschehen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, mit den Phasen der Rehabilitation und der Integration von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft, bis hin zur Idee einer inklusiven Gesellschaft heute. Beispielhafte Biografien von Menschen mit Behinderung werden sich durch die gesamte Ausstellung ziehen.
Irina Bukharkina, Projektleiterin
irina.bukharkina@austausch.org
Tel: +49 (0) 30 446 680 12
Kirsten Heyerhoff, Programm- und Finanzkoordinatorin
kirsten.heyerhoff@austausch.org
Tel: +49 (0) 30 446 680 12
Nataliia Zviagintseva, Programmkoordinatorin und Zuständige für Öffentlichkeitsarbeit
nataliia.zviagintseva@austausch.org
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Carina Spreitzer, Programm- und Finanzkoordinatorin
carina.spreitzer@austausch.org
Tel: +49 (0) 30 446 680 12
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